30
wollten es genießen, und so versenkten sie sich in jene Tie-
fen des Göttlichen, in denen, wie Suso sagt, das eigene Ich
wie ein Tröpflein Wassers in einen Becher Weins zerrinnt.
Und nun fragen wir diejenigen, welche der Gestaltung des reli-
giösen Lebens in der Gegenwart mit aufmerksamem Blicke ge-
folgt sind, ob in ihr nicht ähnliche Gegensätze vorliegen, wie jene,
welche das vierzehnte Jahrhundert charakterisiren, und ob wir Ursach
haben, es uns Wunder nehmen zu lassen, wenn aus den gleichen
Faktoren ein gleiches Produkt wie damals sich entwickelt? Wahrlich,
wenn es möglich wäre, die Erscheinungen auf dem Gebiete des
Geisteslebens in so scharfe Formeln zu fassen, wie wir dies mit
meßbaren Größen vermögen, so würden wir den Fortgang in der
Entwicklung des Lebens der Menschheit mit mathematischer Ge-
nauigkeit im Voraus zu berechnen im Stande sein und zu einer
Phänomenologie des Geistes im kühnsten Sinne des Wortes ge-
langen.
Doch wir müssen einlenken, um zu unserem Dichter und sei-
nem Werk zurückzukehren. Wenn wir bis hierher den Standpunkt
beider im Allgemeinen bezeichnet haben, so kommt es nun noch dar-
auf an, denselben in seiner vorliegenden Besonderheit näher zu
characterisiren.
Zuvörderst ist es ein mindestens der Erwähnung werthes Zu-
sammentreffen, daß Johann Taulers Geburtsort, Straßburg, auch
die Geburtsstätte der mystischen Richtung unseres Dichters ist. Be-
deutsamer aber und für die religiöse Anschauung desselben bezeich-
nend ist es, daß diese Anschauung plötzlich wie eine höhere Gewalt
über ihn kommt. Er ist sich des Momentes dieser geistigen Con-
ception deutlich bewußt, und läßt sich darüber am Anfang der zwei-
ten Cattzone folgendermaaßen vernehmen:
Tag unter allen Tagen mir gesegnet,
An dem der Heiland geistig mir erschienen,
O Tag des Heils, dein werd ich stets gedenken!
Ich fuhr dahin auf blanken Eisenschienen,
Längs den Vogesen hat es fern geregnet,
Ich kam von Straßburgs hoher Schule Bänken
Und ließ in sich versenken
Den Geist sich zu erinnernder Bettachtung.
Da war's, da sah ich ihn, den großen Stillen,
Da ttat er, mir zu Willen,
Hervor aus rings anfdämmernder Umnachtung,
Und die ihn da umstrahlt, die hellen Strahlen,
Sie blitzten gleich Türkisen und Opalen.
Wir finden in diesem aus Zeit und Stunde anzugebenden Her-
einbrechen eines höheren Lichtes oder — wie mit gleichem Rechte
gesagt werden kann, — Hervorbrechen eines im Innern längst
schlummernden Keimes nichts Unglaubliches, kaum etwas Wunder-
bares, denn Natur und Geschichte bieten dafür Analogieen in reicher
Fülle dar. Auch werden wir bald inne, daß das, was scheinbar so
unerwartet, so zusammenhangslos emporschießt, sich darum keiues-
weges den Gesetzen menschlicher Entwicklung entzieht. Denn wir
haben Gelegenheit, wahrzunehmen, daß die beregte Richtung des
Verfassers anfangs bei ihm noch in den ersten Stadien ihrer Ent-
faltung begriffen, und noch nicht zum vollen Durchbruch gekommen
ist. Am unverkennbarsten zeigt sich dies darin, daß er sich nament-
lich in den ersten Canzonen noch häufig der Terminologie derjeni-
gen philosophischen Lehrer bedient, denen er aus „den Bänken von
Straßburgs hoher Schule" gelauscht hat. So heißt es S. 10:
Den Punkt, aus welchem Gott die Welt beweget
Zur Rückkehr aus der Endlichkeit Verneinung,
Ihn sah ich im Gekreuzigten —
und S. 14:
-Elend scheinen
Müßt ihr mir vollends, wo ihr vor mögt wenden
Das Selbstvergegcnständen;
so wie S. 15:
Gefühl der Selbigkeit im llnterschiede, -
Gefühl des Unterschiedes in der Einheit
Ist heißer Durst und frischer Trunk der Liebe.
Aber je weiter das Gedicht fortschreitet, je mehr sich der Ver-
fasser in seinen Gegenstand versenkt, desto freier wird er von diesen
Fesseln, welche die Schule seinem poetischen Empfinden und Dar-
stellen anlegt, und wir stehen nicht an, in dieser Wahrnehmung eines
Fortschritts innerhalb des vorliegenden Werkes selbst eine Gewähr
: für die Zukunft des Dichters zu erblicken. — Ob wir aber mit
gleicher Zuversicht der Fortentwicklung auch seiner christologischen
Auffassung entgegensehen dürfen, darüber läßt uns das, was augen-
blicklich vorliegt, mindestens zweifelhaft. Zur Zeit hat der Verfasser
in dieser Beziehung die Traditionen der philosophischen Schule, aus
der er hervorgegangen ist, noch nicht überwunden. In Beziehung
auf das Thatsächliche in dem Leben Christi gilt ihm gleich,
ob er lebte als Erdenkniß,
Ob anders, gleich gilt, wann und wo er lebte; (S. 10)
und wenn es bald darauf (S. 11) heißt:
Mir mochte freilich stets auch klarer werden,
Daß er im Wesentlichen war auf Erden,
Mir mochte das Geschichtliche begründen
Theilweise sich und ründen —
so wird uns Niemand zumuthen, in diesem „theilweise" ein Be-
kenntniß zu dem historischen Christtrs vernehmen zu sollen. Inwie-
fern wir den Mangel eines solchen Bekenntnisses an sich beklagen,
darüber uns auszulassen haben wir hier keinen Raum; aber das
dürfen wir an dieser Stelle nicht verschweigen, daß unter demselben
uns auch der Dichter zu verarmen scheint. Jene großartigen poe-
tischen Anschauungen, die sich aus der Auferstehung, der Himmel-
fahrt, der Wiederkunft zum Gericht unmittelbar ergeben, sind ihm
auf seinem Standpimkte vollständig abhanden gekommen, und es liegt
zu Tage, welche Verkümmerung dadurch der in Bearbeitung genom-
mene Stoff überall erlitten hat. Wir sind weit davon entfernt, un-
ter dem Hinweis auf diese Thatsache einen Ruf zum Verlassen seines
Standpunktes an den Dichter ergehen zu lassen — wenn wir es
auf einen solchen abgesehen hätten, so würden wir ihn mit mächti-
geren Motiven geltend zu machen wissen —; aber wir können nicht
umhin, hier die Thatsache auszusprechen, daß auch die reichste ideale
Schöpfung hinter der in der Geschichte selbst niedergelegten Fülle
immer zurückbleibt.
Was den Dichter veranlaßt hat, sein Gedicht „der deutsche
Christus" zu betiteln, darüber nähere Auskunft zu geben, hat ihm
nicht gefallen. Unter diesen Umständen muß es gestattet sein, auf
die Erklärung des Vorredners zurückzugehen, der, wie wir anneh-
men dürfen, in der Lage war, sich genauer über die Absicht des
Dichters zu unterrichten. Jak. Grimm sagt: „offenbar ist die mei-
nung, dasz er einen Christus in deutschem sinn aufstelle, wie
ihn deutsche gemütsart und gedankenerhebung gefunden, ge-
hegt und erkannt hat, seit durch die reformation herz und
glaube gelöst und frei gemacht, und jener kalte, allgemeine
Christus der katholischen kirche aufgehoben wurde.“ Wir
können dieser Erklärung nichf beitreten, zunächst schon deshalb nicht,
weil, wie wir nachgewiesen haben, die durch das Gedicht hindurch
gehende Auffassung des Erlösers eine bereits der vorreformatorischen
Zeit ungehörige ist, entschiedener aber noch deshalb nicht, weil we-
der eine namhafte deutsche theologische Schule, noch eine deutsche
kirchliche Gemeinschaft, am wenigsten aber das Gesammtbewußffein
des deutschen jVolkes jene Auffassung bis jetzt zu der ihrigen ge-
macht hat. Sollte, wie wir fast vermuthen, durch die in Rede
stehende Bezeichnung angedeutet werden, daß das deutsche Volk sich
auf dem Wege zu dieser Auffassung befinde, so wollen wir mit dem
wollten es genießen, und so versenkten sie sich in jene Tie-
fen des Göttlichen, in denen, wie Suso sagt, das eigene Ich
wie ein Tröpflein Wassers in einen Becher Weins zerrinnt.
Und nun fragen wir diejenigen, welche der Gestaltung des reli-
giösen Lebens in der Gegenwart mit aufmerksamem Blicke ge-
folgt sind, ob in ihr nicht ähnliche Gegensätze vorliegen, wie jene,
welche das vierzehnte Jahrhundert charakterisiren, und ob wir Ursach
haben, es uns Wunder nehmen zu lassen, wenn aus den gleichen
Faktoren ein gleiches Produkt wie damals sich entwickelt? Wahrlich,
wenn es möglich wäre, die Erscheinungen auf dem Gebiete des
Geisteslebens in so scharfe Formeln zu fassen, wie wir dies mit
meßbaren Größen vermögen, so würden wir den Fortgang in der
Entwicklung des Lebens der Menschheit mit mathematischer Ge-
nauigkeit im Voraus zu berechnen im Stande sein und zu einer
Phänomenologie des Geistes im kühnsten Sinne des Wortes ge-
langen.
Doch wir müssen einlenken, um zu unserem Dichter und sei-
nem Werk zurückzukehren. Wenn wir bis hierher den Standpunkt
beider im Allgemeinen bezeichnet haben, so kommt es nun noch dar-
auf an, denselben in seiner vorliegenden Besonderheit näher zu
characterisiren.
Zuvörderst ist es ein mindestens der Erwähnung werthes Zu-
sammentreffen, daß Johann Taulers Geburtsort, Straßburg, auch
die Geburtsstätte der mystischen Richtung unseres Dichters ist. Be-
deutsamer aber und für die religiöse Anschauung desselben bezeich-
nend ist es, daß diese Anschauung plötzlich wie eine höhere Gewalt
über ihn kommt. Er ist sich des Momentes dieser geistigen Con-
ception deutlich bewußt, und läßt sich darüber am Anfang der zwei-
ten Cattzone folgendermaaßen vernehmen:
Tag unter allen Tagen mir gesegnet,
An dem der Heiland geistig mir erschienen,
O Tag des Heils, dein werd ich stets gedenken!
Ich fuhr dahin auf blanken Eisenschienen,
Längs den Vogesen hat es fern geregnet,
Ich kam von Straßburgs hoher Schule Bänken
Und ließ in sich versenken
Den Geist sich zu erinnernder Bettachtung.
Da war's, da sah ich ihn, den großen Stillen,
Da ttat er, mir zu Willen,
Hervor aus rings anfdämmernder Umnachtung,
Und die ihn da umstrahlt, die hellen Strahlen,
Sie blitzten gleich Türkisen und Opalen.
Wir finden in diesem aus Zeit und Stunde anzugebenden Her-
einbrechen eines höheren Lichtes oder — wie mit gleichem Rechte
gesagt werden kann, — Hervorbrechen eines im Innern längst
schlummernden Keimes nichts Unglaubliches, kaum etwas Wunder-
bares, denn Natur und Geschichte bieten dafür Analogieen in reicher
Fülle dar. Auch werden wir bald inne, daß das, was scheinbar so
unerwartet, so zusammenhangslos emporschießt, sich darum keiues-
weges den Gesetzen menschlicher Entwicklung entzieht. Denn wir
haben Gelegenheit, wahrzunehmen, daß die beregte Richtung des
Verfassers anfangs bei ihm noch in den ersten Stadien ihrer Ent-
faltung begriffen, und noch nicht zum vollen Durchbruch gekommen
ist. Am unverkennbarsten zeigt sich dies darin, daß er sich nament-
lich in den ersten Canzonen noch häufig der Terminologie derjeni-
gen philosophischen Lehrer bedient, denen er aus „den Bänken von
Straßburgs hoher Schule" gelauscht hat. So heißt es S. 10:
Den Punkt, aus welchem Gott die Welt beweget
Zur Rückkehr aus der Endlichkeit Verneinung,
Ihn sah ich im Gekreuzigten —
und S. 14:
-Elend scheinen
Müßt ihr mir vollends, wo ihr vor mögt wenden
Das Selbstvergegcnständen;
so wie S. 15:
Gefühl der Selbigkeit im llnterschiede, -
Gefühl des Unterschiedes in der Einheit
Ist heißer Durst und frischer Trunk der Liebe.
Aber je weiter das Gedicht fortschreitet, je mehr sich der Ver-
fasser in seinen Gegenstand versenkt, desto freier wird er von diesen
Fesseln, welche die Schule seinem poetischen Empfinden und Dar-
stellen anlegt, und wir stehen nicht an, in dieser Wahrnehmung eines
Fortschritts innerhalb des vorliegenden Werkes selbst eine Gewähr
: für die Zukunft des Dichters zu erblicken. — Ob wir aber mit
gleicher Zuversicht der Fortentwicklung auch seiner christologischen
Auffassung entgegensehen dürfen, darüber läßt uns das, was augen-
blicklich vorliegt, mindestens zweifelhaft. Zur Zeit hat der Verfasser
in dieser Beziehung die Traditionen der philosophischen Schule, aus
der er hervorgegangen ist, noch nicht überwunden. In Beziehung
auf das Thatsächliche in dem Leben Christi gilt ihm gleich,
ob er lebte als Erdenkniß,
Ob anders, gleich gilt, wann und wo er lebte; (S. 10)
und wenn es bald darauf (S. 11) heißt:
Mir mochte freilich stets auch klarer werden,
Daß er im Wesentlichen war auf Erden,
Mir mochte das Geschichtliche begründen
Theilweise sich und ründen —
so wird uns Niemand zumuthen, in diesem „theilweise" ein Be-
kenntniß zu dem historischen Christtrs vernehmen zu sollen. Inwie-
fern wir den Mangel eines solchen Bekenntnisses an sich beklagen,
darüber uns auszulassen haben wir hier keinen Raum; aber das
dürfen wir an dieser Stelle nicht verschweigen, daß unter demselben
uns auch der Dichter zu verarmen scheint. Jene großartigen poe-
tischen Anschauungen, die sich aus der Auferstehung, der Himmel-
fahrt, der Wiederkunft zum Gericht unmittelbar ergeben, sind ihm
auf seinem Standpimkte vollständig abhanden gekommen, und es liegt
zu Tage, welche Verkümmerung dadurch der in Bearbeitung genom-
mene Stoff überall erlitten hat. Wir sind weit davon entfernt, un-
ter dem Hinweis auf diese Thatsache einen Ruf zum Verlassen seines
Standpunktes an den Dichter ergehen zu lassen — wenn wir es
auf einen solchen abgesehen hätten, so würden wir ihn mit mächti-
geren Motiven geltend zu machen wissen —; aber wir können nicht
umhin, hier die Thatsache auszusprechen, daß auch die reichste ideale
Schöpfung hinter der in der Geschichte selbst niedergelegten Fülle
immer zurückbleibt.
Was den Dichter veranlaßt hat, sein Gedicht „der deutsche
Christus" zu betiteln, darüber nähere Auskunft zu geben, hat ihm
nicht gefallen. Unter diesen Umständen muß es gestattet sein, auf
die Erklärung des Vorredners zurückzugehen, der, wie wir anneh-
men dürfen, in der Lage war, sich genauer über die Absicht des
Dichters zu unterrichten. Jak. Grimm sagt: „offenbar ist die mei-
nung, dasz er einen Christus in deutschem sinn aufstelle, wie
ihn deutsche gemütsart und gedankenerhebung gefunden, ge-
hegt und erkannt hat, seit durch die reformation herz und
glaube gelöst und frei gemacht, und jener kalte, allgemeine
Christus der katholischen kirche aufgehoben wurde.“ Wir
können dieser Erklärung nichf beitreten, zunächst schon deshalb nicht,
weil, wie wir nachgewiesen haben, die durch das Gedicht hindurch
gehende Auffassung des Erlösers eine bereits der vorreformatorischen
Zeit ungehörige ist, entschiedener aber noch deshalb nicht, weil we-
der eine namhafte deutsche theologische Schule, noch eine deutsche
kirchliche Gemeinschaft, am wenigsten aber das Gesammtbewußffein
des deutschen jVolkes jene Auffassung bis jetzt zu der ihrigen ge-
macht hat. Sollte, wie wir fast vermuthen, durch die in Rede
stehende Bezeichnung angedeutet werden, daß das deutsche Volk sich
auf dem Wege zu dieser Auffassung befinde, so wollen wir mit dem