Literatur
Dlatt
des
Deutschen Knnstblatte
S.
M 17. Donnerstag, den 20. A
Ilgllst.
1857.
Inhalt: Aus und über Italien. Briefe an eine Freundin von R. Schlüter. Erster Band. —
Roman von H. C. Andersen.
- Gedichte von Bernhard Endrulat. — Sein oder nicht sein.
Aus und über Italien.
Briefe an eine Freundin von R. Schlüter. Erster Band.
Hannover, Karl Rumpler. 1857.
Hippel meint einmal gelegentlich: „Wer einen Brief schreibt,
muß glauben, er schreibe an die Welt, und wer ein Buch schreibt,
schreib' es an einen guten Freund, wenn man nicht in beiden Fällen
alltäglich sein will." —
Waren es wirkliche Briese, die Hr. Schlüter aus und über
Italien an eine Freundin schrieb, so konnte die Hippel'sche Regel
kaum buchstäblicher befolgt werden; da sich nichts weiter findet, was
auf einen Briefwechsei hindeuten könnte, als ein sehr seltenes „Denke
Dir" oder sonstige Anrede, die aber vielleicht angemessener an einen
Freund gerichtet wäre, da gelegentlich eine Horazische Ode in der
Ursprache citirt ist, und bisweilen einzelne delikate Punkte des ge-
meinen Lebens in derjenigen Blöße und Nacktheit besprochen werden,
die denselben, alle Prüderie bei Seite gesetzt, doch in der That nur
auf den Straßen und Plätzen italienischer Ortschaften zukommt, nicht
in publicirten Briefen au eine Freundin. — Sind die Briefe
aber sofort für die Veröffentlichung geschrieben und ist die Empfän-
gerin nur fingirt, so daß Hr. Schlüter eigentlich keine Briefe, son-
dern ein Buch schreiben wollte, so hat er sich wohl gegen den Hip-
pelschen Lehrsatz versündigt, dessen Brauchbarkeit der Schriftsteller
von Fach übrigens oft genug erprobt haben wird, da er weiß, daß
er desto besser schreibt, je individueller er sich sein Publikum denkt,
daß seine Produktivität und Originalität sich steigert mit der Lebhaf-
tigkeit, in welcher ihm die Persönlichkeit gegenwärtig ist, welche er
belehren, widerlegen, unterhalten will.
Es erklärt sich hieraus, daß für literarische Erstlingsprodukte
gar gern die Briefform gewählt wird, weil sie den richtigen Ge-
danken Hippels am handgreiflichsten darzustellen scheint; andrerseits
aber auch, daß die gute Verwendung dieser Form, wie die Litera-
turgeschichte beweist, eine gereiste schriftstellerische Kraft voraussetzt,
da die Anerkennung der Hippelschen Regel bei der Wahl der Brief-
form für ein Buch die Vermittelung eines in ihr selbst liegenden
Widerspruchs erheischt.
Hr. Schlüter schreibt nun nicht für Einen oder für Eine,
sondern für Alle. Ganz wie Göthe. Außer der kurz behandelten
14tägigen Reise von Koblenz nach Venedig bespricht der fast 400
Seiten starke Band ausschließlich einen mehr als sechsmonatlichen
Winteraufenthalt in Venedig. Nun ist freilich der Betrachtung der
Kunstschätze Venedigs, und zwar namentlich der Schätze der Malerei,
der überwiegend größte Raum gewidmet; daneben aber ist mit ver-
hältnißmäßig gleicher Gründlichkeit alles Andere behandelt: historische
und politische Excurse wechseln mit Sitten- und Charakterbildern,
Naturschilderungen, Betrachtungen über Handel und Industrie,
Literatur-Blatt.
Theater, Musik, kirchliches Leben, Zeitnngs- und Paßwesen, Cen-
sur, Militair, Steuer, Carneval und mit moralischen Sentenzen.
Die Kritik fragt aber nicht bloß darnach, was geschrieben ist,
sondern, wer es und wie er es schreibt, und wenn sie sich nach der
oberflächlichen Inhaltsangabe hier mit dem Was zufrieden erklären
kann, so liegt uns noch die Prüfung des Wie für das Wer ob.
Wenn nun selbst Göthe, — da wir ihn einmal genannt haben und
wohl Jeder an ihn denkt, wenn italienische Briefe genannt werden
— wenn nun selbst er in seinen Reiseberichten nicht überall der
Vielseitigkeit gewachsen war, welche für eine totale Beherrschung
aller Reiseeindrücke vorauszusetzen sein würde; so möchte hierin schon
hinlängliche Nöthigung liegen, daß die Epigonen um so sorgfältigere
Rücksprache mit ihrem Wissen und Können halten, während die
Nöthigung über alles Neue, das Einem auf der Reise begegnet, ein
Urtheil abzugeben, für Niemanden besteht. Auch in diesem Punkte
läßt sich gerade von Gölhe'scher Bescheidenheit lernen.
Trotz des Vielen und Mannigfaltigen, was das Buch bringt,
ist uns doch ein größerer Theil desselben für unsere, allerdings
strenge Auffassung, den Beweis für die Berechtigung schuldig ge-
blieben. Wie gesagt, behandelt es mit besonderer Vorliebe die Schätze
der Malerei, welche Venedig birgt; es bekundet sich dabei aber, daß die
zum öfteren vorkommende aufrichtige Bemerkung des Vers., er sehe nur
mit Laienaugen, keine affectirte, sondern berechtigte Bescheidenheit ent-
hält. Ist aber solche Bescheidenheit berechtigt, so ist die richtige
Confequenz, daß man ihren Gegenstand nicht zu früh an die Oeffent-
lichkeit bringe.
Es scheint uns, daß Hr. Schlüter in Venedig hauptsächlich zum
Kunstenthusiasten wurde, daß er ferner sich mit Eifer auf das Ver-
ständniß der Kunst geworfen hat, daß er dabei einen richtigen Weg
geht und die Gelegenheit, die ihm so reich geboten ist, aus sehr
verständige Weise ausbeutet, daß der halbjährige Aufenthalt in Ve-
nedig ihn wesentliche Fortschritte in der Bildung seines Urtheils
machen ließ, daß es für ihn somit Schade gewesen wäre, wenn er
seine genauen und fleißigen Beobachtungen, Prüfungen und Studien
nicht ausgeschrieben und aufbewahrt hätte; aber trotzdem konnten sie
ungedruckt bleiben: denn die Wissenschaft der Kunst wird weder bei
Nichtlaien, noch bei Laien wesentlich gefördert; ersteren ist wenig
geholfen, letzteren wird bisweilen geschadet. Neben manchen wahren
und verständig gefaßten Meinungen finden sich auch dilettantische
und durch zu große Allgemeinheit nichtssagende Urtheile, sowie tri-
viale, trockene, gesuchte und falsche Auslegungen nicht selten. (Bei-
spielsweise verweisen wir auf die Bemerkungen über Tizians Ma-
donna, genannt pala dei Pesari, in der Frarikirche, S. 59, Paul
Veronese's jetzt aus Venedig entfernten Darius vor Alexander,
S. 100). — Die Urtheile über Sculptur fallen noch mehr unter
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Dlatt
des
Deutschen Knnstblatte
S.
M 17. Donnerstag, den 20. A
Ilgllst.
1857.
Inhalt: Aus und über Italien. Briefe an eine Freundin von R. Schlüter. Erster Band. —
Roman von H. C. Andersen.
- Gedichte von Bernhard Endrulat. — Sein oder nicht sein.
Aus und über Italien.
Briefe an eine Freundin von R. Schlüter. Erster Band.
Hannover, Karl Rumpler. 1857.
Hippel meint einmal gelegentlich: „Wer einen Brief schreibt,
muß glauben, er schreibe an die Welt, und wer ein Buch schreibt,
schreib' es an einen guten Freund, wenn man nicht in beiden Fällen
alltäglich sein will." —
Waren es wirkliche Briese, die Hr. Schlüter aus und über
Italien an eine Freundin schrieb, so konnte die Hippel'sche Regel
kaum buchstäblicher befolgt werden; da sich nichts weiter findet, was
auf einen Briefwechsei hindeuten könnte, als ein sehr seltenes „Denke
Dir" oder sonstige Anrede, die aber vielleicht angemessener an einen
Freund gerichtet wäre, da gelegentlich eine Horazische Ode in der
Ursprache citirt ist, und bisweilen einzelne delikate Punkte des ge-
meinen Lebens in derjenigen Blöße und Nacktheit besprochen werden,
die denselben, alle Prüderie bei Seite gesetzt, doch in der That nur
auf den Straßen und Plätzen italienischer Ortschaften zukommt, nicht
in publicirten Briefen au eine Freundin. — Sind die Briefe
aber sofort für die Veröffentlichung geschrieben und ist die Empfän-
gerin nur fingirt, so daß Hr. Schlüter eigentlich keine Briefe, son-
dern ein Buch schreiben wollte, so hat er sich wohl gegen den Hip-
pelschen Lehrsatz versündigt, dessen Brauchbarkeit der Schriftsteller
von Fach übrigens oft genug erprobt haben wird, da er weiß, daß
er desto besser schreibt, je individueller er sich sein Publikum denkt,
daß seine Produktivität und Originalität sich steigert mit der Lebhaf-
tigkeit, in welcher ihm die Persönlichkeit gegenwärtig ist, welche er
belehren, widerlegen, unterhalten will.
Es erklärt sich hieraus, daß für literarische Erstlingsprodukte
gar gern die Briefform gewählt wird, weil sie den richtigen Ge-
danken Hippels am handgreiflichsten darzustellen scheint; andrerseits
aber auch, daß die gute Verwendung dieser Form, wie die Litera-
turgeschichte beweist, eine gereiste schriftstellerische Kraft voraussetzt,
da die Anerkennung der Hippelschen Regel bei der Wahl der Brief-
form für ein Buch die Vermittelung eines in ihr selbst liegenden
Widerspruchs erheischt.
Hr. Schlüter schreibt nun nicht für Einen oder für Eine,
sondern für Alle. Ganz wie Göthe. Außer der kurz behandelten
14tägigen Reise von Koblenz nach Venedig bespricht der fast 400
Seiten starke Band ausschließlich einen mehr als sechsmonatlichen
Winteraufenthalt in Venedig. Nun ist freilich der Betrachtung der
Kunstschätze Venedigs, und zwar namentlich der Schätze der Malerei,
der überwiegend größte Raum gewidmet; daneben aber ist mit ver-
hältnißmäßig gleicher Gründlichkeit alles Andere behandelt: historische
und politische Excurse wechseln mit Sitten- und Charakterbildern,
Naturschilderungen, Betrachtungen über Handel und Industrie,
Literatur-Blatt.
Theater, Musik, kirchliches Leben, Zeitnngs- und Paßwesen, Cen-
sur, Militair, Steuer, Carneval und mit moralischen Sentenzen.
Die Kritik fragt aber nicht bloß darnach, was geschrieben ist,
sondern, wer es und wie er es schreibt, und wenn sie sich nach der
oberflächlichen Inhaltsangabe hier mit dem Was zufrieden erklären
kann, so liegt uns noch die Prüfung des Wie für das Wer ob.
Wenn nun selbst Göthe, — da wir ihn einmal genannt haben und
wohl Jeder an ihn denkt, wenn italienische Briefe genannt werden
— wenn nun selbst er in seinen Reiseberichten nicht überall der
Vielseitigkeit gewachsen war, welche für eine totale Beherrschung
aller Reiseeindrücke vorauszusetzen sein würde; so möchte hierin schon
hinlängliche Nöthigung liegen, daß die Epigonen um so sorgfältigere
Rücksprache mit ihrem Wissen und Können halten, während die
Nöthigung über alles Neue, das Einem auf der Reise begegnet, ein
Urtheil abzugeben, für Niemanden besteht. Auch in diesem Punkte
läßt sich gerade von Gölhe'scher Bescheidenheit lernen.
Trotz des Vielen und Mannigfaltigen, was das Buch bringt,
ist uns doch ein größerer Theil desselben für unsere, allerdings
strenge Auffassung, den Beweis für die Berechtigung schuldig ge-
blieben. Wie gesagt, behandelt es mit besonderer Vorliebe die Schätze
der Malerei, welche Venedig birgt; es bekundet sich dabei aber, daß die
zum öfteren vorkommende aufrichtige Bemerkung des Vers., er sehe nur
mit Laienaugen, keine affectirte, sondern berechtigte Bescheidenheit ent-
hält. Ist aber solche Bescheidenheit berechtigt, so ist die richtige
Confequenz, daß man ihren Gegenstand nicht zu früh an die Oeffent-
lichkeit bringe.
Es scheint uns, daß Hr. Schlüter in Venedig hauptsächlich zum
Kunstenthusiasten wurde, daß er ferner sich mit Eifer auf das Ver-
ständniß der Kunst geworfen hat, daß er dabei einen richtigen Weg
geht und die Gelegenheit, die ihm so reich geboten ist, aus sehr
verständige Weise ausbeutet, daß der halbjährige Aufenthalt in Ve-
nedig ihn wesentliche Fortschritte in der Bildung seines Urtheils
machen ließ, daß es für ihn somit Schade gewesen wäre, wenn er
seine genauen und fleißigen Beobachtungen, Prüfungen und Studien
nicht ausgeschrieben und aufbewahrt hätte; aber trotzdem konnten sie
ungedruckt bleiben: denn die Wissenschaft der Kunst wird weder bei
Nichtlaien, noch bei Laien wesentlich gefördert; ersteren ist wenig
geholfen, letzteren wird bisweilen geschadet. Neben manchen wahren
und verständig gefaßten Meinungen finden sich auch dilettantische
und durch zu große Allgemeinheit nichtssagende Urtheile, sowie tri-
viale, trockene, gesuchte und falsche Auslegungen nicht selten. (Bei-
spielsweise verweisen wir auf die Bemerkungen über Tizians Ma-
donna, genannt pala dei Pesari, in der Frarikirche, S. 59, Paul
Veronese's jetzt aus Venedig entfernten Darius vor Alexander,
S. 100). — Die Urtheile über Sculptur fallen noch mehr unter
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