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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 31.1912-1913

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Breuer, Robert: Zwischen Gotik und Rokoko
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https://doi.org/10.11588/diglit.7010#0475

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Zwischen Gotik und Rokoko.

RICHARD EXGELMAXN - BERLIN.

»DIE TRAUERNDE« KALKSTEIN.

an die groteske, fast hysterische Entrenkung
jener Figuren zu denken, die das Architekto-
nische in plastische Nervosität auflösen, wie
das in Chartres, in Reims, an St. Gudule und
Notre Dame zu erleben ist. Wer fühlt vor
Hallcrs Even nicht die gebundene Erregung, die
jene Auferstehenden und Verdammten oder die
knospend quellenden Leiber der „Kirche" und
„Synagoge" aus dem Steinernen in das Fleisch
drängte. Es lastet über allen diesen Neuen und
Suchenden etwas von der rührenden Scheu
junger Tiere; sie wagen es noch nicht, sich laut
zu regen, als fürchteten sie, durch ein Zuviel,
vielleicht gar schon durch ein Anheben ihr
Gleichgewicht zu stören. Ein Gleichgewicht,
das aus der Harmonie eines innerlichen Tönens
zu keimen scheint. Alle diese Neuen und Su-
chenden horchen in sich hinein; die bildhaue-
rische Belebtheit der Epidermis ihrer Werke
ist wie ein Reflex eingeschlossener, nach außen
wellender Musik. Diese flächige Ziselierung
der Haut gibt den Figuren einen in Süße dis-
kreten Schauer. Es ist wie ein Spiel des Roko-

kos über den Tiefen versonnener Empfindung.
— Die gotische Plastik war in die Architektur
gebunden; das Rokoko hatte (ausgenommen
die Vibrationen des Porzellans) überhaupt keine
Bildhauerei des Runden, weil es bereits in
seinem konstruktiven Gerüst und in seinem
Raumgefühl Plastik war. Die Rundplastik ge-
hört den kühlen Zeiten der Klassik. Das goti-
sche Figurengewimmel entkeimt dem Stein, hebt
sich nur zur Hälfte daraus hervor und bleibt,
auch wenn es faktisch freisteht, dem Baukörper
verschwistert. Es scheint das Dogma von der
Notwendigkeit der absoluten Rundung für die
ganze Periode der gotischen Plastik nicht da-
gewesen zu sein. Es scheint sich auch bei der
neuen deutschen Plastik keine Geltung ver-
schafft zu haben. Die meisten dieser Figuren
wollen weniger gedreht und Umschriften, als
im rahmenden Zusammenhang, wie ein Orna-
ment höchsten Grades, frontal betrachtet wer-
den. Und doch wiederum sind sie alle ein
Element des Tanzes innerhalb der Stabilität
des tatsächlichen oder des hinzuzudenkenden

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