Alte Städte und moderne Architekten.
PROFESSOR EMANUEL VON SEIDL MÜNCHEN.
HAUS ALFF IN STOLIiERG. »DIE AUFFAHRT«
alten Stadt zu verwenden ist, wofern diese auf
die getreue Erhaltung ihres historischen Stil-
charakters, auch bei neuen Repräsentations-
bauten, entscheidenden Wert legt. Ist aber hier-
mit die ganze Bewegung, die auf stilgerechte
architektonische Wiedergaben gerichtet ist, nicht
im prinzipiellen Sinne erledigt? Denn was ist
das für eine Kunst, bei der die Künstler nicht
mehr mittun können und die Handwerker vor-
schieben müssen? Es erhellt ganz von selber,
daß hier Wertvolles überhaupt nicht geschaffen
werden kann, sondern daß, was hier entsteht,
für den Schein und für den Moment und für
die Beruhigung kurzsichtiger und schwungloser
Pedanten hingestellt wurde. Es ist nun einmal
ein unumstößliches Gesetz aller Kunst, daß sie
stets nur in lebendiger Fühlung mit den impul-
siven Kräften ihrer ganzen Zeit entstehen kann.
Und darin macht die Architektur nicht nur
keine Ausnahme, sondern sie ist wohl dessen
schlagendster Beweis. Überall ist sie der
zwingendste Ausdruck der praktischen Lebens-
tendenzen einer Zeit.
So sollen also unsere alten Städte, bei dem
großen Prozeß ihrer Umwandlung in moderne
Stadtwesen, der gewichtigen Beihilfe schöpfe-
rischer Baukünstler gänzlich entraten? Aber
ganz und gar nicht! Sie sollen ihnen bloß nicht
falsche Aufgaben stellen, sollen vor allem von
ihnen nicht die Opferung ihrer künstlerischen
Eigenpersönlichkeit verlangen. Männer wie
Messel und Ludwig Hoffmann in Berlin haben
ja grade dadurch ihre besten Erfolge zu erzie-
len verstanden, daß sie, ohne von ihrer Selb-
ständigkeit etwas zu opfern, das Neue mit dem
Alten in einen bestimmten Einklang brachten.
Freilich hatten sie den Vorteil, daß sie an
biedermeierliche und Empire-Formen anknüpfen
konnten, die unserem modernen architek-
tonischen Empfinden am verwandtesten sind.
Indes sie haben diese Formen nicht übernommen,
sondern weitergebildet und haben jedenfalls
ihr Hauptziel, etwas ganz aus dem Charakter
unserer eigenen Zeit Entstandenes hinzustellen,
nie aus den Augen verloren. Weit schwieriger
liegen die Verhältnisse in Wien, wo vielfach das
Barock maßgebend ist, das für die Verkörperung
moderner Baubedürfnisse so gut wie gar keine
Vorbildlichkeit darbietet; das sich auch in sich
selbervölligausgelebthatund keinerlei neue Ent-
wicklungsmöglichkeiten enthält. Eine stilistische
Anknüpfung kann nur zu architektonischen
Phrasen führen, zu einem Widerspruch zwischen
demlebendigenZweck des Gebäudes und seinem
Formausdruck. Etwas Organisches jedenfalls
ist hier nicht möglich. Besonders gewitzigte
Architekten haben freilich versucht, bei sonst
durchweg modern gehaltenen Gebäuden im
1913. VI. i.
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PROFESSOR EMANUEL VON SEIDL MÜNCHEN.
HAUS ALFF IN STOLIiERG. »DIE AUFFAHRT«
alten Stadt zu verwenden ist, wofern diese auf
die getreue Erhaltung ihres historischen Stil-
charakters, auch bei neuen Repräsentations-
bauten, entscheidenden Wert legt. Ist aber hier-
mit die ganze Bewegung, die auf stilgerechte
architektonische Wiedergaben gerichtet ist, nicht
im prinzipiellen Sinne erledigt? Denn was ist
das für eine Kunst, bei der die Künstler nicht
mehr mittun können und die Handwerker vor-
schieben müssen? Es erhellt ganz von selber,
daß hier Wertvolles überhaupt nicht geschaffen
werden kann, sondern daß, was hier entsteht,
für den Schein und für den Moment und für
die Beruhigung kurzsichtiger und schwungloser
Pedanten hingestellt wurde. Es ist nun einmal
ein unumstößliches Gesetz aller Kunst, daß sie
stets nur in lebendiger Fühlung mit den impul-
siven Kräften ihrer ganzen Zeit entstehen kann.
Und darin macht die Architektur nicht nur
keine Ausnahme, sondern sie ist wohl dessen
schlagendster Beweis. Überall ist sie der
zwingendste Ausdruck der praktischen Lebens-
tendenzen einer Zeit.
So sollen also unsere alten Städte, bei dem
großen Prozeß ihrer Umwandlung in moderne
Stadtwesen, der gewichtigen Beihilfe schöpfe-
rischer Baukünstler gänzlich entraten? Aber
ganz und gar nicht! Sie sollen ihnen bloß nicht
falsche Aufgaben stellen, sollen vor allem von
ihnen nicht die Opferung ihrer künstlerischen
Eigenpersönlichkeit verlangen. Männer wie
Messel und Ludwig Hoffmann in Berlin haben
ja grade dadurch ihre besten Erfolge zu erzie-
len verstanden, daß sie, ohne von ihrer Selb-
ständigkeit etwas zu opfern, das Neue mit dem
Alten in einen bestimmten Einklang brachten.
Freilich hatten sie den Vorteil, daß sie an
biedermeierliche und Empire-Formen anknüpfen
konnten, die unserem modernen architek-
tonischen Empfinden am verwandtesten sind.
Indes sie haben diese Formen nicht übernommen,
sondern weitergebildet und haben jedenfalls
ihr Hauptziel, etwas ganz aus dem Charakter
unserer eigenen Zeit Entstandenes hinzustellen,
nie aus den Augen verloren. Weit schwieriger
liegen die Verhältnisse in Wien, wo vielfach das
Barock maßgebend ist, das für die Verkörperung
moderner Baubedürfnisse so gut wie gar keine
Vorbildlichkeit darbietet; das sich auch in sich
selbervölligausgelebthatund keinerlei neue Ent-
wicklungsmöglichkeiten enthält. Eine stilistische
Anknüpfung kann nur zu architektonischen
Phrasen führen, zu einem Widerspruch zwischen
demlebendigenZweck des Gebäudes und seinem
Formausdruck. Etwas Organisches jedenfalls
ist hier nicht möglich. Besonders gewitzigte
Architekten haben freilich versucht, bei sonst
durchweg modern gehaltenen Gebäuden im
1913. VI. i.
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