Das Pathos des Monumentalen.
architekt paul thiersch—berlin. landhaus syla-neumark. »gartenseite
rationsstil. Die einseitige Vorherrschaft und
das unerschütterliche Prestige dieser deko-
rativen Architekturbetätigung hat schließlich
dahin geführt, daß das architektonische Emp-
finden für große Monumentalwirkungen völlig
abgestumpft ist und daß in allen Fällen schon
die dekorative Zutat für Baukunst genommen
wird. Wie sehr wir uns entwöhnt haben,
gerade in unserer bürgerlichen Baukunst auf
streng architektonische Wirkungen zu halten,
dafür können die hier beigefügten Abbildungen
eines von dem Architekten Paul Thiersch, Berlin
errichteten Wohnhauses als Beispiel dienen.
Die streng monumentale Haltung dieser Wohn-
hausarchitektur und der feierliche, fast sakrale
Ton dieser Innenräume scheinen uns pathetisch
übertrieben; wir sehen ein durch enge achsiale
Bindungen gefesseltes Raumensemble, eine
geschlossene, in ihren Einzelheiten unverrück-
bare Einheit, einen wohlgeordneten Organis-
mus , in dem kein Möbel verschoben oder an
einen anderen Platz gerückt werden kann, ohne
daß die beabsichtigte Gesamtwirkung empfind-
lich gestört würde. Diese gesteigerte, bewußt
über das Alltägliche hinausgehobene Stimmung
ist durch alle Räume des Hauses, vom Arbeits-
zimmer bis zum Schlafzimmer, festgehalten.
Es ist freilich nicht jedermanns Sache, sich zu
allen Tageszeiten einer so eigenwilligen, das
Selbstbestimmungsrecht und die Bewegungs-
freiheit der Bewohner fast ausschließenden
Raumstimmung zu unterwerfen. Aber es offen-
bart diese pathetische Ausdrucksform doch
auch ein starkes und lebendiges Gefühl für
Rhythmus und Monumentalität, das sich aus-
zuleben sucht und nach Betätigung drängt und
das, weil es ganz echt und durchaus ursprüng-
lich ist, seine Berechtigung in sich selber trägt,
auch wenn es hier vielleicht am falschen
Objekt zum Ausbruch kommt. Thiersch ist der
geborene Monumentalarchitekt, es ist ihm
durchaus ernst mit seinen feierlich gehobenen
Empfindungen, und seine große Geste ist nie-
mals leer, auch wenn sie bisweilen deplaziert
erscheinen mag. Seiner schönen Begabung sind
große, über die „bürgerliche" Sphäre hinaus-
weisende Bauaufgaben sehr zu wünschen. Denn
die Befähigung für das Monumentale ist heute
selten, und es liegt durchaus im Interesse einer
Erstarkung unseres Architekturgefühls, daß einer
solchen Begabung Gelegenheit gegeben wird,
sich auszusprechen. — vvalter curt Behrendt.
221
architekt paul thiersch—berlin. landhaus syla-neumark. »gartenseite
rationsstil. Die einseitige Vorherrschaft und
das unerschütterliche Prestige dieser deko-
rativen Architekturbetätigung hat schließlich
dahin geführt, daß das architektonische Emp-
finden für große Monumentalwirkungen völlig
abgestumpft ist und daß in allen Fällen schon
die dekorative Zutat für Baukunst genommen
wird. Wie sehr wir uns entwöhnt haben,
gerade in unserer bürgerlichen Baukunst auf
streng architektonische Wirkungen zu halten,
dafür können die hier beigefügten Abbildungen
eines von dem Architekten Paul Thiersch, Berlin
errichteten Wohnhauses als Beispiel dienen.
Die streng monumentale Haltung dieser Wohn-
hausarchitektur und der feierliche, fast sakrale
Ton dieser Innenräume scheinen uns pathetisch
übertrieben; wir sehen ein durch enge achsiale
Bindungen gefesseltes Raumensemble, eine
geschlossene, in ihren Einzelheiten unverrück-
bare Einheit, einen wohlgeordneten Organis-
mus , in dem kein Möbel verschoben oder an
einen anderen Platz gerückt werden kann, ohne
daß die beabsichtigte Gesamtwirkung empfind-
lich gestört würde. Diese gesteigerte, bewußt
über das Alltägliche hinausgehobene Stimmung
ist durch alle Räume des Hauses, vom Arbeits-
zimmer bis zum Schlafzimmer, festgehalten.
Es ist freilich nicht jedermanns Sache, sich zu
allen Tageszeiten einer so eigenwilligen, das
Selbstbestimmungsrecht und die Bewegungs-
freiheit der Bewohner fast ausschließenden
Raumstimmung zu unterwerfen. Aber es offen-
bart diese pathetische Ausdrucksform doch
auch ein starkes und lebendiges Gefühl für
Rhythmus und Monumentalität, das sich aus-
zuleben sucht und nach Betätigung drängt und
das, weil es ganz echt und durchaus ursprüng-
lich ist, seine Berechtigung in sich selber trägt,
auch wenn es hier vielleicht am falschen
Objekt zum Ausbruch kommt. Thiersch ist der
geborene Monumentalarchitekt, es ist ihm
durchaus ernst mit seinen feierlich gehobenen
Empfindungen, und seine große Geste ist nie-
mals leer, auch wenn sie bisweilen deplaziert
erscheinen mag. Seiner schönen Begabung sind
große, über die „bürgerliche" Sphäre hinaus-
weisende Bauaufgaben sehr zu wünschen. Denn
die Befähigung für das Monumentale ist heute
selten, und es liegt durchaus im Interesse einer
Erstarkung unseres Architekturgefühls, daß einer
solchen Begabung Gelegenheit gegeben wird,
sich auszusprechen. — vvalter curt Behrendt.
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