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Deutsche Kunst und Dekoration: illustr. Monatshefte für moderne Malerei, Plastik, Architektur, Wohnungskunst u. künstlerisches Frauen-Arbeiten — 34.1914

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Raphael, Max: Zur gegenwärtigen Bedeutung der Schiller'schen Ästhetik
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https://doi.org/10.11588/diglit.7447#0354

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Zur gegenwärtigen Bedeutung der Schillerschen Ästhetik.

aus der heraus er ein Werk gebären kann. —
Das sind die grundlegenden Gedanken, von
denen aus Schiller zu seinem Begriff der
„schönen Kunst" fortschreitet, und aus denen
wir zugleich alle Gründe gegen eine sogen,
abstrakte, formale Kunst und Kunsttheorie
ebenso entnehmen können, wie die der Ab-
lehnung einer naturalistischen Kunst. Dabei
wollen wir beachten, daß der Begriff der Ab-
straktion — obwohl er es weniger deutlich
ausdrückt — ebenso wie der korrespondierende
Gegenbegriff der Einfühlung, der Begriff des
Stils wie der der Natur, im Gebiet der Kunst
zwei Bedeutungen hat, eine funktionale, indem
er die schöpferische Tätigkeit bezeichnen, und
eine statische, indem er das Wesen des Kunst-
werks umschreiben soll.

Wenn schon die Schönheit ein Produkt aus
Sinnlichkeit und Verstand war, um wieviel
mehr noch die schöne Kunst! Niemals würde
Schiller zugeben, der einen vor der anderen
einen Rang anzuweisen. Die Funktion, die
Kunst schafft, muß beide enthalten und beide
in einem immateriellen Gleichgewicht. „Ohne
Form keine Materie, ohne Materie keine Form",
ist der Leitsatz der Schillerschen Kunstlehre,
der in immer neuen Variationen Ausdruck fin-
det. „Des Menschen Kultur wird also darin
bestehen, erstlich: dem empfangenden Vermö-
gen die vielfältigsten Berührungen mit der Welt
zu verschaffen und auf Seiten des Gefühls die
Passivität aufs Höchste zu treiben; zweitens:
dem bestimmenden Vermögen die höchste Un-
abhängigkeit von dem empfangenden zu erwer-
ben und auf Seiten der Vernunft die Aktivität
aufs Höchste zu treiben. Wo beide Eigen-
schaften sich vereinigen, da wird der Mensch
mit der höchsten Fülle von Dasein die höchste
Selbständigkeit und Freiheit verbinden und
anstatt sich an die Welt zu verlieren, diese
vielmehr mit der ganzen Unendlichkeit ihrer
Erscheinungen in sich ziehen und der Einheit
seiner Vernunft unterwerfen." Schiller betont
ausdrücklich, daß die Gefahr des Rationalismus
für Erkenntnis und Betragen nicht geringer sei
als die des Sensualismus. Die entscheidende
Erkenntnis liegt darin, daß sie vor einem
höheren Forum sich völlig gleichen, trotz ihrer
polarhaften Gegensätzlichkeit in der Erschei-
nung. Schiller drückt das erfreulich kraß so
aus, daß beide „gleich Null seien — der eine,
weil er nie er selbst, der andere, weil er nie
etwas anderes ist".

Einsichtiger läßt sich die statische Seite
des Abstraktionsbegriffes widerlegen. Schiller
selbst nennt das Resultat des Spieltriebes „le-
bende Gestalt". Ein andermal sagt er, das

Geheimnis jeder schönen, d. h. künstlerischen
Darstellung beruhe „auf der Sinnlichkeit im
Ausdruck und der Freiheit der Bewegung".
Das wahre Wesen des Kunstwerks liege zwi-
schen der Meinung des Sensualisten, die es
zu bloßem Leben, und der Lehre „von speku-
lativen Weltweisen", die es zur bloßen Gestalt
degradieren wollen. Leben und Form, Körper
und Bedeutung, Sein und Bewegung müssen in
dem Werk ihren harmonischen und lebendigen
Ausdruck erhalten haben, damit der Betrachter
„rein wie aus den Händen des Schöpfers aus
dem Zauberkreis des Künstlers" entlassen wird.
— Nichts von alledem in dem modernen For-
malismus. Weder Hodler mit seinem auf Paral-
lelismus beruhenden Schema, noch der in
mathematischen Figurenkompositionen sich er-
schöpfende neue Akademismus des Othon Friesz
und seiner Schule (als falsche Cezanne-Nach-
ahmung), noch die Ausdruckskunst Münchs
kommen diesenBestimmungen der Schillerschen
Ästhetik nach. Hodlers Parallelismus ist ein
Netz, das er über jeden Stoff gleichmäßig legen
kann, ohne dadurch — was jede echte Form
notwendig tun müßte — den Stoff aufzuzehren.
Vielmehr wird der Betrachter, nachdem er von
der formalen Beziehung in Anspruch genom-
men war, nachdrücklich auf den Inhalt ver-
wiesen und so durch zwei Materialitäten be-
schäftigt, wo er von keiner berührt werden
sollte. Das gleiche gilt von der zweiten Kate-
gorie, da auch sie unter dem Fluch einer sogen.
Form steht, die ihren Ursprung fern von der
Materie genommen hat, die sie formen soll.
Die Natur auf Dreiecke und Vierecke hin an-
sehen und komponieren, ist nicht weniger anek-
dotisch und materiell als sie auf einen bestimm-
ten Zustand der Luft etc. betrachten und ab-
malen. Auch Münchs Ausdruckskunst bedeutet
nur eine Steigerung der äußeren Lebendigkeit
auf Kosten der inneren, eine Tötung der künst-
lerischen Ausdrucksmittel zugunsten des aus-
gedrückten Gegenstandes, so daß das litera-
rische Symbol das fehlende Leben der Farben
und Linien ersetzen muß.

Kann der moderne Künstler aus der Ästhetik
Schillers nichts lernen, weil gerade nach der
Meinung ihres Autors der schöpferische Trieb
von der Beeinflussung durch den Verstand un-
abhängig ist, so sollte der moderne Kunst-
wissenschaftler um so nachdrücklicher bei
einem Satz verharren und sich allen Psychologen
zum Trotz nicht eher begnügen, als bis er ihm
durch die Aufstellung oder Anerkennung einer
entsprechenden Theorie Genüge geleistet hat:
daß der „Einbildungskraft eine eigene absolute
Gesetzgebung" zukomme. max Raphael.

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