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Dussler, Luitpold; Michelangelo [Ill.]
Die Zeichnungen des Michelangelo: kritischer Katalog — Berlin, 1959

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https://doi.org/10.11588/diglit.42438#0031
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den Aufrisse für Kuppel und Laterne der Peterskirche um 1547 (Kat.n. 148). Gleichwohl sind
diese Gebilde - so sehr sie des alten Meisters Präzisionsschärfe und Gründlichkeit vergegen-
wärtigen - mehr als Sonderfälle zu betrachten, denn generell überwiegt seit den vierziger
Jahren ein lockerer, summarischer Vortrag, indem der Umriß seiner eigenen Akzentuierung
entsagt und Strichbündel, die die Figur mehr umschreiben und hinterholen, die Aufgabe über-
nehmen. Mit diesem mehr umspielenden als präzisierenden Charakter der Konturierung hängt
es zusammen, daß auch das Eigenleben der Binnenbehandlung verschwindet; die Modellie-
rung des Körpers vollzieht sich weitgehend aus demselben Strichgefüge, wodurch viel mehr
Ausgleiche als Gegensätze das Bild der Gesamterscheinung bestimmen. Dieser zeichnerische
Vorgang geht eins mit einer Figurengestaltung, die unter Verzicht auf die Betonung des Funk-
tionellen und der ausladenden Gliederung die Geschlossenheit und Schwere der Körper, ihre
Dichte und Blockhaftigkeit festzuhalten sucht, gleich ob es um eine Einzelfigur, eine Gruppe
oder ein größeres kompositionelles Gefüge geht. Aus dieser Tendenz der Vereinfachung, die nur
noch das Notwendige fixiert, kann indes nicht gefolgert werden, daß Michelangelo auf Einzel-
studien verzichtet hätte, denn die erhaltenen Detailskizzen zu einem Torso, Knie, Fuß (Kat.n.
189 r, 236 V)- sicher nur zufällig erhaltener Bestand - bezeugen, daß ihm auch jetzt solche Auf-
gaben nicht unwichtig erschienen. Dabei wird die gewandelte Lösung gegenüber der mittleren
Periode offenbar: nicht mehr die analytische Klarlegung steht im Vordergrund der Behandlung,
sondern die optische Gesamtaufnahme, in der die tiefe Kenntnis der anatomischen Einzelform
zur Synthesis führt.
Mit dem Leitmotiv der Vereinfachung traf sich das Hinwegsetzen über Grundsätze eines
Schönheitskanons, der in den dreißiger Jahren noch sein heimliches Recht ausgeübt hatte, doch
blieb, wenn auch unter anderen Gesetzen wie ehedem, dem Akt der gestalterische Primat ge-
sichert. Diese Tendenz fällt um so mehr auf, wenn man die behandelten Bildstoffe überblickt:
gefordert war die Aktfigur nur bei den Kampfgruppen (Kat.n. 188, 200), beim Cruzifixus
(Kat.n. 175, 211,243, 204, 236, 185), oder von der formalen Aufgabe als bildnerische Konzi-
pierung her bei dem Pieta-Entwurf in Oxford (Kat.n. 201). Michelangelo aber dehnte dieselbe
nicht nur auf biblische Concetti wie das Thema der Wechslervertreibung (Kat.n. 165, 166, 167)
und des Ölbergs (Kat.n. 202) aus, sondern faßte selbst Maria und Johannes, die Trauernden
unter dem Kreuz, und die Madonna mit dem Kind (Kat.n. 161) in dieser Form. Die Gewan-
dung bleibt mehr oder weniger nur Andeutung, umschreibende Hülle, denn auch dort, wo von
der Draperie ausführlicherer Gebrauch gemacht ist wie in den Verkündigungsszenen (Kat.n.
179,176,205), treten die Formen des Körpers kraftvoll heraus. - Bildnerischen Aufgaben haben
innerhalb dieser Spätzeichnungen nur noch die wenigsten gegolten, als Vorbereitung für seine
persönlichste Schöpfung eigentlich nur die Concetti der Pieta in Oxford (Kat.n. 201), denn
der Figurenentwurf in Haarlem (Kat.n. 297) und die Skizze des Reiterdenkmals in Amster-
dam (Kat.n. 244) dürften mit hoher Wahrscheinlichkeit für Daniele da Volterras Arbeiten be-
stimmt gewesen sein. Sehen wir von den paar flüchtigen Skizzen ab, die sich auf die Paolina-
Fresken beziehen (Kat.n. 5or, 134, 148), so war eine Anzahl für Gemälde vorgesehen, deren
Ausführung anderen Händen, hauptsächlich M. Venusti, anvertraut wurde (Kat.n. 166, 167,
202, 336), der übrige Teil aber wie die Reihe der Kreuzigungsblätter (Kat.n. 175, 185, 204,
211, 232, 236^ 243, 358r) und die stehende Madonna mit Kind (Kat.n. 161) dürfte wohl
kaum anders als nach seinem autonomen Charakter zu verstehen sein. In Michelangelos Zeich-
nungsopus nehmen diese stillen, ergreifenden Monologe, die der dichterischen Produktion

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