IDEALISMUS UND NATURALISMUS IN DER GOTIK
Schaffende und Geschaffene zurückgeführt werden muß. Nicht in dem
religiösen Charakter allein, auf den immer hingewiesen wird, lag das
Eigenartige der mittelalterlichen Kunstentwicklung — die Kunst der
Gegenreformation war z. B. nicht minder religiös und doch trotz man-
cher Berührungspunkte so weit von der gotischen entfernt —, sondern
in dieser Allgewalt einer jenseits des materiellen Erlebens liegenden
geistigen Konstruktion, deren Einfluß so groß war, daß jedes unver-
mittelte Zurückgreifen auf sinnliche Erfahrung in geistigen Dingen,
ähnlich wie heute jedes willkürliche Sichhinwegsetzen über dieselbe, als
ein unsinniger und zu verdammender Verstoß gegen die Wahrheit und
den Menschenverstand aufgefaßt wurde. „In ihren Seelen ist das Den-
ken so von körperlichen Dingen umsponnen, daß es sich aus ihnen gar
nicht herauszuwickeln vermag“, schrieb Anselm von Canterbury gegen
Roscellin und seine Schüler.
In dieser Unterordnung aller körperlichen Dinge, d. h. aller sinnlichen
Werte und materiellen Beziehungen unter die Gesichtspunkte einer rein
geistigen und übersinnlichen Bedeutsamkeit war die primäre Quelle der
Fortschritte enthalten, die sich in der mittelalterlichen Kunst vollzo-
gen haben und die sie als eine — nicht minder wie die altorientalische,
klassische oder moderne — selbständige und in sich abgeschlossene
Phase der allgemeinen Kunstentwicklung erscheinen lassen. Sie zeigt
uns den Weg, der von der traumhaften Vergeistigung der Materie und
des ganzen Universums im antiken Christentum und in der altchrist-
lichen Kunst zu dem barbarisch vulkanischen, grauenhaft revolu-
tionären Verzicht der neuen Völker und der neuen Kultur des frühen
Mittelalters auf sinnliche Schönheit führte und eine scharfe Grenze zwi-
schen der neuen geistigen Wahrheit und Überzeugung, wie auch dem
auf ihr beruhenden Phantasieleben und der „Scheinexistenz“ der alten
weltlichen Güterund sinnlichen Eindrücke bis zur Vernichtung aller alten
Kulturbegriffe gezogen hat1. Als man sich ihnen in der karolingischen
Zeit wieder zuzuwenden begann, nachdem der unbedingte transzen-
1 In der leidenschaftlichsten Weise kommt dies bereits bei Tertullian (De idolatrialiber c. III,
Migne, P. L. 1, 740.) zum Ausdruck: „At ubi artifices statuarum et imaginum et omnis ge-
neris simulacrorum diabolus saeculo intulit, rüde illud negotium humanae calamitatis, et
nomen de idolis consecutum est, et profectum. Exinde jam caput facta est idolatriae ars
omnis, quae idolum quomodo edit.“ Wenn man einwendet, daß die Künstler von ihrer Arbeit
leben müssen, so könnte man damit auch fures balneanos et ipsos latrones entschuldigen.
Das positive neue Programm wurde am prägnantesten ausgedrückt vom hl. Augustin: „Non
in aliqua mole corporeasuspicandaestpulchritudo.“ (Epist., ad Consentium, c. 4. n. 20 Migne,
P. L. 33, 462.)
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Schaffende und Geschaffene zurückgeführt werden muß. Nicht in dem
religiösen Charakter allein, auf den immer hingewiesen wird, lag das
Eigenartige der mittelalterlichen Kunstentwicklung — die Kunst der
Gegenreformation war z. B. nicht minder religiös und doch trotz man-
cher Berührungspunkte so weit von der gotischen entfernt —, sondern
in dieser Allgewalt einer jenseits des materiellen Erlebens liegenden
geistigen Konstruktion, deren Einfluß so groß war, daß jedes unver-
mittelte Zurückgreifen auf sinnliche Erfahrung in geistigen Dingen,
ähnlich wie heute jedes willkürliche Sichhinwegsetzen über dieselbe, als
ein unsinniger und zu verdammender Verstoß gegen die Wahrheit und
den Menschenverstand aufgefaßt wurde. „In ihren Seelen ist das Den-
ken so von körperlichen Dingen umsponnen, daß es sich aus ihnen gar
nicht herauszuwickeln vermag“, schrieb Anselm von Canterbury gegen
Roscellin und seine Schüler.
In dieser Unterordnung aller körperlichen Dinge, d. h. aller sinnlichen
Werte und materiellen Beziehungen unter die Gesichtspunkte einer rein
geistigen und übersinnlichen Bedeutsamkeit war die primäre Quelle der
Fortschritte enthalten, die sich in der mittelalterlichen Kunst vollzo-
gen haben und die sie als eine — nicht minder wie die altorientalische,
klassische oder moderne — selbständige und in sich abgeschlossene
Phase der allgemeinen Kunstentwicklung erscheinen lassen. Sie zeigt
uns den Weg, der von der traumhaften Vergeistigung der Materie und
des ganzen Universums im antiken Christentum und in der altchrist-
lichen Kunst zu dem barbarisch vulkanischen, grauenhaft revolu-
tionären Verzicht der neuen Völker und der neuen Kultur des frühen
Mittelalters auf sinnliche Schönheit führte und eine scharfe Grenze zwi-
schen der neuen geistigen Wahrheit und Überzeugung, wie auch dem
auf ihr beruhenden Phantasieleben und der „Scheinexistenz“ der alten
weltlichen Güterund sinnlichen Eindrücke bis zur Vernichtung aller alten
Kulturbegriffe gezogen hat1. Als man sich ihnen in der karolingischen
Zeit wieder zuzuwenden begann, nachdem der unbedingte transzen-
1 In der leidenschaftlichsten Weise kommt dies bereits bei Tertullian (De idolatrialiber c. III,
Migne, P. L. 1, 740.) zum Ausdruck: „At ubi artifices statuarum et imaginum et omnis ge-
neris simulacrorum diabolus saeculo intulit, rüde illud negotium humanae calamitatis, et
nomen de idolis consecutum est, et profectum. Exinde jam caput facta est idolatriae ars
omnis, quae idolum quomodo edit.“ Wenn man einwendet, daß die Künstler von ihrer Arbeit
leben müssen, so könnte man damit auch fures balneanos et ipsos latrones entschuldigen.
Das positive neue Programm wurde am prägnantesten ausgedrückt vom hl. Augustin: „Non
in aliqua mole corporeasuspicandaestpulchritudo.“ (Epist., ad Consentium, c. 4. n. 20 Migne,
P. L. 33, 462.)
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