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IDEALISMUS UND NATURALISMUS IN DER GOTIK

gig von den tiefsten Geheimnissen der kirchlichen Offenbarung durch
seine im irdischen sinnlichen Leben begründete Kunst, durch das freie
Walten der Phantasie den göttlichen und menschlichen Inhalt der hei-
ligen Erzählungen kleiden konnte.
So war aber in der neuen Kunst ein zweifacher Fortschritt enthalten.
1. Generelle Probleme und Normen der Naturwiedergabe und Natur-
paraphrase gewannen selbständige Bedeutung und wurden der wich-
tigste Inhalt des spezifisch künstlerischen Strebens und Erfolges.
2. In ihrer autonom künstlerischen, sinnfälligen Gesetzmäßigkeit wurde
ein neuer Ausgangspunkt für künstlerische Idealisierung und Monu-
mentalisierung gefunden. So wurde beispielsweise der Raumzusammen-
schluß als Grundform der natürlichen räumlichen Zusammenhänge und
hiermit auch als eines der wichtigsten Merkmale der Naturtreue einer
malerischen Darstellung zum unumgänglichen Erfordernis jeder male-
rischen Komposition, zugleich aber durch freie Anpassung dieses
Zusammenschlusses an die geschlossene und in Fläche und Raum ab-
gewogene und konzentrierte Bildwirkung das hauptsächlichste Mittel,
im Beschauer den Eindruck einer klärend befreienden und erhebenden
künstlerischen Lösung zu erwecken. Ähnliches gilt für die neuen Ideal-
typen, in denen sich zur mittelalterlichen Formelhaftigkeit eine be-
wußte künstlerische Regel, wie auch zu der auf generellen geistigen
Momenten und ihnen entsprechenden Schönheitsvorstellungen aufge-
bauten Idealisierung eine auf rein formalen Momenten und den mit
ihnen verknüpften Anschauungen von Größe, Stil und künstlerischer
Überlegenheit beruhende gesellte. In diesem Bewußtsein und offenen
Eingeständnis des autonomen Phantasiespieles als der eigentlichen selb-
ständigen Aufgabe der Kunst war jene Wandlung begriffen, die den ihre
Folgen miterlebenden Schriftstellern des fünfzehnten und sechzehnten
Jahrhunderts als die Erneuerung der Kunst und als die Rückkehr zu der
wahren Doktrin, zu den im Mittelalter verloren gegangenen Regeln er-
scheinen mußte. „Cominciö Parte della pictura a sormontarein Etruria
in una villa allato alla cittä di Firenze“, schrieb Ghiberti klar und ent-
schieden, wie man nur über Tatsachen zu schreiben pflegt,‘bei denen ein
Zweifel nicht möglich ist, was in Anbetracht der zahlreichen, Ghiberti ge-
wiß nicht unbekannten älteren Denkmäler nicht verständlich wäre, wenn
es sich nicht eben um einen neuen Begriff der Malerei gehandelt hätte.
Dieser blieb aber wie Petrarcas Lehre vom Wesen der Literatur auch
im Norden nicht ohne Einfluß. Man kann ihn in verschiedenen

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