DIE LEGENDE DER HEILIGEN GENOVEVA
Ein Abschnitt aus den „Deutschen Volksbüchern"
Der Inhalt der Genoveva-Sage ist die alte und ewig neue Geschichte
des von ihrem Gatten unschuldig verfolgten Weibes. Nachdem der
Pfalzgraf Siegfried in den Kreuzzug gezogen ist, bleibt seine Gattin
Genoveva allein in der Obhut des Haushofmeisters Golo zurück.
Golo, in die junge Gräfin verliebt, benutzt die Abwesenheit des Pfalz-
grafen dazu, um Genoveva für sich zu gewinnen. Als er sieht, daß
seine Werbungen keinen Erfolg haben und die fromme Genoveva
treu ihrem Gatten ergeben ist, klagt er sie, um sich zu rächen, des
Ehebruches mit dem Koch an. Die Unschuldige wird daraufhin mit
ihrem neugeborenen Kinde eingekerkert und schließlich in die Wild-
nis verbannt. Dort lebt sie sechs Jahre ein gottgefälliges und ent-
behrungsreiches Leben, bis der Pfalzgraf sie eines Tages während
einer Jagd auffindet, ihre Unschuld sich erweist und er sie und
seinen Sohn Schmerzenreich heimführt.
Die alten deutschen Volksbücher, in denen diese Legende erzählt
wird, erfahren, nachdem sie in Spinnstuben und unter Dorflinden
jahrhundertelang unbeachtet fortgelebt haben, durch den „Sturm
und Drang" eine neue literarische Auferstehung. Von dort über-
nimmt dann die Romantik die Vorliebe für die alten Sagen, Märchen
und Lieder der deutschen Vergangenheit. Der Genoveva-Stoff wird
von den Romantikern verschiedentlich neu bearbeitet. Tieck, der
Maler Müller haben ihn dramatisch behandelt, Robert Schumann
hat gar eine Oper über dieses Thema geschrieben.
Die gerettete Genoveva, verlassen von allen Menschen,
ging in dem wilden Wald herum und suchte einen Ort, wo
sie vor dem Unwetter geschirmt sich aufhalten könnte; sie
fand aber den ganzen, langen Tag keinen, sondern wurde
genötigt, unter einem Baume ihre Nachtherberge zu nehmen.
So brachte sie die kalte Nacht unter Frost und vieler Furcht
hin, ohne allen Schlaf, die weinenden Augen und zitternden
Hände gen Himmel gewendet. Als der Morgen anbrach, stand
sie auf und nahm ihr Kind, das auf ihrem Schoße geruht
hatte, auf den Arm, dann ging sie abermals den ganzen Tag
im Walde umher, eine gelegene Höhle oder auch nur einen
hohlen Baum zu suchen, um darin zu wohnen. Aber es war
wieder vergebens. Da sie nun zwei Tage nichts gegessen
und getrunken, so war ihr Hunger und Durst so groß, daß
sie die rohen Wurzeln der Kräuter auszuraufen anfing, sich
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Ein Abschnitt aus den „Deutschen Volksbüchern"
Der Inhalt der Genoveva-Sage ist die alte und ewig neue Geschichte
des von ihrem Gatten unschuldig verfolgten Weibes. Nachdem der
Pfalzgraf Siegfried in den Kreuzzug gezogen ist, bleibt seine Gattin
Genoveva allein in der Obhut des Haushofmeisters Golo zurück.
Golo, in die junge Gräfin verliebt, benutzt die Abwesenheit des Pfalz-
grafen dazu, um Genoveva für sich zu gewinnen. Als er sieht, daß
seine Werbungen keinen Erfolg haben und die fromme Genoveva
treu ihrem Gatten ergeben ist, klagt er sie, um sich zu rächen, des
Ehebruches mit dem Koch an. Die Unschuldige wird daraufhin mit
ihrem neugeborenen Kinde eingekerkert und schließlich in die Wild-
nis verbannt. Dort lebt sie sechs Jahre ein gottgefälliges und ent-
behrungsreiches Leben, bis der Pfalzgraf sie eines Tages während
einer Jagd auffindet, ihre Unschuld sich erweist und er sie und
seinen Sohn Schmerzenreich heimführt.
Die alten deutschen Volksbücher, in denen diese Legende erzählt
wird, erfahren, nachdem sie in Spinnstuben und unter Dorflinden
jahrhundertelang unbeachtet fortgelebt haben, durch den „Sturm
und Drang" eine neue literarische Auferstehung. Von dort über-
nimmt dann die Romantik die Vorliebe für die alten Sagen, Märchen
und Lieder der deutschen Vergangenheit. Der Genoveva-Stoff wird
von den Romantikern verschiedentlich neu bearbeitet. Tieck, der
Maler Müller haben ihn dramatisch behandelt, Robert Schumann
hat gar eine Oper über dieses Thema geschrieben.
Die gerettete Genoveva, verlassen von allen Menschen,
ging in dem wilden Wald herum und suchte einen Ort, wo
sie vor dem Unwetter geschirmt sich aufhalten könnte; sie
fand aber den ganzen, langen Tag keinen, sondern wurde
genötigt, unter einem Baume ihre Nachtherberge zu nehmen.
So brachte sie die kalte Nacht unter Frost und vieler Furcht
hin, ohne allen Schlaf, die weinenden Augen und zitternden
Hände gen Himmel gewendet. Als der Morgen anbrach, stand
sie auf und nahm ihr Kind, das auf ihrem Schoße geruht
hatte, auf den Arm, dann ging sie abermals den ganzen Tag
im Walde umher, eine gelegene Höhle oder auch nur einen
hohlen Baum zu suchen, um darin zu wohnen. Aber es war
wieder vergebens. Da sie nun zwei Tage nichts gegessen
und getrunken, so war ihr Hunger und Durst so groß, daß
sie die rohen Wurzeln der Kräuter auszuraufen anfing, sich
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