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Richter, Ludwig; Eckert, Karla
Die heilige Genoveva — Der Kunstbrief, Band 36: Berlin: Mann, 1946

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https://doi.org/10.11588/diglit.72964#0042
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WALDEINSAMKEIT
Zeugnisse aus Dichtungen der Romantik
In dem Märchen „Der blonde Eckbert" prägt Tieck 1796 zuerst
das Wort Waldeinsamkeit. Dieses Wort, von den Freunden des
Dichters zuerst seltsamerweise als ungewöhnlich, ja als undeutsch
abgelehnt, wird dann sehr bald zu einem festen Begriff für die
Romantik und wird wieder und wieder in der Dichtung gebraucht.
In dem Worte Waldeinsamkeit ist für die Romantik die ganze
Poesie, der geheimnisvolle Zauber der dunklen schweigenden Wäl-
der ausgedrückt, sie gewährt dem Menschen Glück und Frieden und
eine Zuflucht vor dem lauten und falschen Treiben der Welt. Solange
das Mädchen Bertha in dem Märchen vom blonden Eckbert bei der
wunderlichen Alten lebt, ist sie glücklich, als sie aber der Verlockung
nach Neuem nachgibt und in die Welt der Menschen zurückkehrt,
verstrickt sie sich in Schuld und Leid und geht endlich zugrunde.
In keiner anderen Zeit ist die Schönheit des deutschen Waldes
inniger empfunden und besungen worden als durch die romanti-
schen Dichter. Die verstärkte Bedeutung, die gegen das Ende des
18. Jahrhunderts das Gefühl erhält und die Kräfte des Gemüts emp-
fangen, läßt im Menschen der damaligen Zeit eine Welt von neuen
Empfindungen emporwachsen, auch seine Stellung der Natur gegen-
über ändert sich grundlegend. Nicht mehr als der mächtige Gegen-
spieler, sondern mit ehrfürchtigem Schauer vor ihrer Unermeßlich-
keit nähert er sich ihr. Er trachtet nicht mehr danach, sie zu beherr-
schen, sondern seine Sehnsucht geht dahin, ganz in ihr aufzugehen,
sich selber in ihr zu verlieren. Daraus erwächst seine Vorliebe für
von Menschen unbewohnte Gegenden, unwegsame Gebirge. Die
größte Anziehung aber hat für ihn die undurchdringliche und doch
liebliche, von Geheimnis umwobene Tiefe dunkler Wälder, die seine
Phantasie mit Märchen- und Sagengestalten bevölkert.
Aus diesem Geiste heraus entstehen innerhalb der Dichtung der
Romantik Landschaftsschilderungen von unvergleichlicher Schön-
heit und Stärke der Empfindung, aus demselben Boden erwächst
auch der Malerei eine neue Blüte der Landschaftskunst.

AUS: TIECK, FRANZ STERNBALDS WANDERUNGEN
Es war noch am Morgen, als er in dem Wäldchen stand, das
vor dem Dorf seiner Eltern lag. Hier war sein Spielplatz
gewesen, hier war er oft in der stillen Einsamkeit des Abends
voll Nachdenken gewandelt, wenn die Schatten immer dichter
zusammenwuchsen und das Rot der sinkenden Sonne tief

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