Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Richter, Ludwig; Eckert, Karla
Die heilige Genoveva — Der Kunstbrief, Band 36: Berlin: Mann, 1946

DOI Page / Citation link:
https://doi.org/10.11588/diglit.72964#0039
Overview
Facsimile
0.5
1 cm
facsimile
Scroll
OCR fulltext
die Zitzen des Wildes und ließ es so lange saugen, bis es
gesättigt war. Durch diese himmlische Wohltat wurde die
gute Gräfin so erfreut, daß sie sich auf die Knie niederwarf
und mit vielen süßen Tränen dem gütigen Gott Dank sagte
und in Demut um Fortsetzung seiner Hilfe flehte. Ihr Gebet
wurde erhört; die Hirschkuh kam täglich, so lange beide in
der Wüste waren, zweimal, das Kind zu säugen. Dies war
die einzige Hilfe, welche das schuldlose Kind sieben ganzer
Jahre lang von den Kreaturen empfing, während seine
Mutter von Wurzeln und Kräutern leben mußte. Ihre Grafen-
wohnung hatte sie mit der wilden Einöde vertauscht, ihr
schönes Zimmer mit einer finsteren Kluft, ihre reichbeladene
Tafel mit wilden Kräutern, ihre Kammerfrauen waren die
unvernünftigen Tiere; statt auf ihr weiches Ruhebett legte
sie sich des Nachts in Laub und harte Reiser; anstatt ihrer
kostbaren Perlen hatte sie bittere Zähren, und für Lust und
Kurzweil nichts als Leid und Traurigkeit. Im Sommer war
zwar ihr Elend noch erträglich, im Winter aber quälte sie
die Kälte; die Nahrung aus der Erde war kaum aufzutreiben;
wenn sie trinken wollte, mußte sie das gefrorene Eis so
lange im Munde halten, bis es schmolz; wenn sie Wurzeln
suchen wollte, mußte sie den tiefen Schnee hinwegräumen
und gar mühselig mit einem Holz in die gefrorene Erde
hineingraben; wollte sie sich erwärmen, so mußte sie die
eiskalten Hände so lange zusammenschlagen und reiben,
bis das Blut wieder kam. Und die langen Winternächte, die
kein Ende nehmen wollten, mußte sie mit ihrem kleinen
Knaben in der schwarzen Höhle durchleben. Doch waren
alle Schmerzen, welche die Gräfin aus eigener Bedrängnis
litt, gering gegen den Kummer, den ihr mütterliches Herz
über das Elend ihres Kindes empfand.
Dieses fing allmählich an, heranzuwachsen und sein eigenes
Elend zu empfinden. Wie oft drückte die Mutter ihren Schatz
an die Brust, seine kleinen von Kälte erstarrten Glieder zu
wärmen! Und wenn sie dann sah, wie sein ganzer Leib von
Kälte bebte, so wußte sie vor Trauer sich nicht zu halten
und mußte unaufhörlich weinen, und das arme Kind weinte

19
 
Annotationen