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Falke, Otto von; Lessing, Julius
Kunstgeschichte der Seidenweberei: eine Auswahl der vorzüglichsten Kunstschätze der Malerei, Sculptur und Architektur der norddeutschen Metropole, dargestellt in einer Reihe der ausgezeichnetsten Stahlstiche mit erläuterndem Texte (Band 1) — Berlin, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.19016#0050
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Die ganz besondere Eignung der Seide zum Ausfuhrhandel in die entferntesten Ab*
satzgebiete, die weiten Wanderungen der Stoffe hatten zur Folge, daß der Fundort der alten
Überreste, sonst so oft ein wichtiges Hilfsmittel für die Kunstgeschichte des Mittelalters,
bei der Ursprungsbestimmung der erhaltenen Seidenstoffe nur selten dienlich ist. Die be*
deutendsten Denkmäler der frühen Seidenkunst von Alexandria, Persien, Byzanz, China
sind nicht im Osten, sondern aus Reliquienschreinen und Kirchenschätzen Italiens, Frankreichs,
Deutschlands zutage gekommen. Der Reliquienverehrung und dem schon zur Karolinger*
zeit entwickelten Reliquienvertrieb verdanken wir überhaupt zumeist die Erhaltung früh?
mittelalterlicher Stoffe. Abgesehen von den spätantiken Geweben aus ägyptischen Gräbern
in Antinoe, Achmim und anderen Fundorten sind weitaus die meisten Überreste früher
Seidenstoffe als Reliquienhüllen der Gegenwart überliefert worden. Aber aus der Verbin?
dung solcher Stoffe mit bestimmten Reliquien ist nicht oft ein brauchbarer Anhalt zur Zeit*
bestimmung zu gewinnen. Im Gegenteil, der Zusammenhang zwischen Stoffen und Heil*
tümern ist häufig der Anlaß zu falschen Datierungen der ersteren gewesen. Die Über*
lieferung in Kirchen und Klöstern nahm gern die Stoffe, die zur Umhüllung von Gebeinen
der Heiligen dienten, als Überreste der Gewänder, welche diese Heiligen getragen haben
sollten. Dadurch wurden Gewebe, die frühestens nach der Kanonisation und Hebung der
Gebeine, oft aber noch viel später bei einer Versendung oder Schaustellung der Reliquien
mit diesen in Verbindung gekommen waren, in die Lebenszeit jener Heiligen zurückversetzt.
So entstanden viele Stoffdatierungen, die nur Verwirrung stifteten. Und wenn einmal eine
glaubwürdige kirchliche Überlieferung einem bei der Translation gehobenen Gewand oder
einem als Reliquie verehrten Gewebe eine haltbare Datierung verlieh, so war damit für die
gleich wichtige Frage der örtlichen Herkunft noch gar nichts gewonnen.

Die Schriflquellen zur Geschichte der alten Webekunst sind zwar ziemlich ergiebig,
aber gerade für die grundlegenden Fragen der kunstgeschichtlichen Bestimmung erhaltener
Stoffe nur wenig verwertbar. Alles was wir über den Seidenhandel und die allmähliche
Verbreitung der Seidenzucht, über die Betriebsorte und die mittelalterlichen Benennungen
ihrer Erzeugnisse wissen, verdanken wir der schriftlichen Überlieferung. Die Erwähnungen
kunstvoller Gewebe bei den alten Schriftstellern reichen bis zu Homer zurück und sie
werden ausführlicher im Mittelalter, insbesondere in den mit dem römischen Liber ponti*
ficalis einsetzenden Inventaren von Kirchenbesitz und Stiftungen. Solche Quellen sind in
zwei älteren, noch immer unentbehrlichen Werken von Francisque*Michel1) und von Ernest
Pariset2) aufgesucht und bearbeitet worden. Sie sind reich an wichtigen Aufschlüssen; aber
am Ende seiner Untersuchungen hat Francisque*Michel zugeben müssen, daß es nicht möglich
ist, die überlieferten Benennungen mit den erhaltenen Stoffen des Mittelalters in Überein*
Stimmung zu bringen. Wir sind darin, obwohl weit mehr Stoffe bekannt geworden sind,
seither nicht viel weiter gekommen. Es ist gewiß lehrreich zu verfolgen, wie in den frühen
Quellen, namentlich im Liber pontificalis, die oströmischen Stoffnamen wie Staurax, Blattin,
Katablattion, Chrysoclavus, Tyreus, Fundatum vorherrschen, wie späterhin die Namen
persischerund arabischer Abstammung, Baldachinus, Damas, Nacco, Taffeta, Zendal, Mosulin
die byzantinischen Ausdrücke verdrängen und wie schließlich italienische Benennungen, in
denen vielfach griechische und sarazenische Worte nachleben, das Feld behaupten. Wohl
spiegelt sich der Wettbewerb von Ost und West, Glück und Niedergang des Seidengewerbes
und Handels darin in großen Zügen wieder. Aber allzu selten sind in den Schriftquellen
die alten Bezeichnungen so weit erläutert, daß man die uns bekannten Stoffe damit iden*
tifizieren könnte.

1) Recherchcs sur le commerce, la fabrication et l'usage des etoffes de soie, d'or et d'argent en Occident
pendant le Moyen Age, Paris 1852.

2) Histoire de la Soie, Paris 1862.

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