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Falke, Otto von; Lessing, Julius
Kunstgeschichte der Seidenweberei: eine Auswahl der vorzüglichsten Kunstschätze der Malerei, Sculptur und Architektur der norddeutschen Metropole, dargestellt in einer Reihe der ausgezeichnetsten Stahlstiche mit erläuterndem Texte (Band 1) — Berlin, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.19016#0085
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Herrlichkeit.1) Das römisch?griechische Element bildete einen starken Teil der Bevölkerung
und der zügellose Luxus seiner Lebenshaltung hat nach Gayet im 5. Jahrhundert wieder?
holt Klagen und Vorwürfe der Kirchenväter auf sich gezogen. Mit dem Ruf der verfeiner*
ten Zivilisation von Antinoe stehen die Textilien aus seiner Nekropole vollkommen im Ein?
klang. Denn die Seidenstoffe, die hier zu Tage kamen, bieten an Vielfältigkeit der Muster
von bald einfacher, bald reicher Erfindung mehr, als die Seidenfunde aus allen übrigen spät?
antiken Gräbern zusammengenommen. Und nicht nur das; auch in der Feinheit der Ar?
beit, der vollendeten Webetechnik stehen sie auf einer Höhe, die erst nach vielen Jahrhun?
derten von den besten Schöpfungen der westsarazenischen und byzantinischen Seidenkunst
wieder erreicht worden ist.

Die Grabfelder von Antinoe sind von A. Gayet, der 1896 die Ruinen der Stadt selbst
erforscht hatte, zuerst gefunden und in mehrjähriger Arbeit aufgedeckt, dann auch von deut?
scher Seite untersucht worden. Die Textilien sind zumeist in das Guimetmuseum in Paris
gekommen, in geringerer Zahl auch in die Stoffsammlungen von Lyon und Berlin.2) Große
wohlerhaltene Seidenstoffe sind nicht darunter; ganzseidene Gewänder waren in Antinoe
nicht gebräuchlich; jedenfalls sind keine in die Gräber gekommen. Die Verwendung der
Seidenstoffe war noch sehr sparsam. Sie wurden zu Streifen, Borten und Besatzstücken in der
Form der gewirkten Claven zerschnitten und auf die allgemein üblichen Leinengewänder auf?
genäht. Ein großer Teil ist schon durch den Gebrauch der Lebenden stark verschlissen wor?
den, sodaß viele Muster nur in sehr bescheidenen, zerfallenen Resten überliefert sind. Eine
erwünschte und sehr bedeutende Ergänzung der Seidenfunde aus der Nekropole bilden
die ursprünglich als Reliquienhüllen verwendeten Stoffe in den Kirchenschätzen des Aache?
ner Münsters und der Kathedrale in Sens. In Aachen sind zwar nur wenig Stücke aus An?
tinoe vorhanden; dafür besitzt Sens ungefähr dreißig verschiedene Muster des Antinoestils.
Kleine und schadhafte Stücke überwiegen auch hier, weil es sich eben um die ältesten Denk?
mäler der Seidenkunst und um Gewebe aus besonders feinen zarten Fäden handelt. Beide
Kirchen verdanken den Hauptteil ihrer ältesten Reliquien und damit auch die Antinoestoffe
einer Schenkung Karls des Großen.3) Daraus ist nicht etwa zu entnehmen, daß die Stoffe
erst im 8. Jahrhundert entstanden sind. Der Maenadenstoff in Sens (vgl. Abb. 52), den An?
tinoeseiden verwandt, ist in das 4. oder 5. Jahrhundert zu setzen und der byzantinische
Quadrigastoff in Aachen (vgl. Abb. 87) stammt nachweislich aus dem 6. Jahrhundert. Der
gewerbsmäßige Handel mit Reliquien aus dem Morgenland, der schon in vorkarolingischer
Zeit in Blüte stand, war von vornherein darauf angewiesen, seine oft recht unscheinbaren
Verkaufsgegenstände durch die äußerliche Ausstattung vertrauenswürdig zu machen. Das
gewöhnlichste Mittel, um auch schwach beglaubigte oder zweifelhafte Reliquien dem guten
Glauben der Abnehmer näher zu bringen, war die Umhüllung mit ersichtlich sehr alten,
kostbaren Seidenstoffen morgenländischer Herkunft. Aus der Zeit Karls des Großen und
schon vorher wird mehrfach über die betrügerische Verwendung alter Stoffe im Reliquien?
handel berichtet.1)

Die erhaltenen Seidenstoffe von Antinoe umfassen zwei, vielleicht drei Jahrhunderte,
innerhalb deren merkliche Stilwandlungen zum Ausdruck kommen. Man kann deutlich

') Als Gründungsjahr nennt Gayet, der Erforscher der Ruinen und Gräber Antinoes, wiederholt das
Jahr 140. Damals aber war Hadrian, der seit 134 die Provinzen nicht mehr bereist hatte, schon gestorben.
Gewöhnlich wird die Gründung von Antinoe ins Jahr 122 gesetzt. Vgl. Gayet, Le Costume en Egypte, Ka*
talog der Pariser Ausstellung im Palais de Costume 1900.

2) Die beste Übersicht über die Antinoestoffe gewährt das Guimetmuseum, wo mit der reichen Samm*
lung von Originalgeweben aus den Funden Gayets viele farbige Aufnahmen und Ergänzungen vereinigt sind.
Lyon besitzt vornehmlich die Dubletten der Guimetsammlung.

:i) Vgl. Chartraire, Inventaire du Tresor de Sens.

') Vgl. Francisque Michel I S. 59 Anm. 1.

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