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Falke, Otto von; Lessing, Julius
Kunstgeschichte der Seidenweberei: eine Auswahl der vorzüglichsten Kunstschätze der Malerei, Sculptur und Architektur der norddeutschen Metropole, dargestellt in einer Reihe der ausgezeichnetsten Stahlstiche mit erläuterndem Texte (Band 1) — Berlin, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.19016#0090
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6. Jahrhunderts1) gibt eine offene Rautenordnung aus Vier?
blattrosen und Blättern, mit Vögeln in jedem Feld, sehr ver?
wandt einem Seidenstorr in Sens (vgl. Abb. 85); und auf dem
Theodoramosaik in S. Vitale zu Ravenna (vor 547) ist ein Vor?
hang mit Quadraten und Vierblattrosen in Schrägreihen gleich
dem Aachener Stoff (vgl. Abb. 83) gemustert.2) Darin liegt
eine Mahnung, die uns erhaltenen Seidengewebe trotz ihres
althergebrachten Stils nicht zu früh anzuzetzen. Nach den Fund?
umständen in Antinoe könnten manche Stoffe noch aus dem
4. Jahrhundert herrühren; die Mehrzahl jedoch gehört sicherlich
erst in das 5. Jahrhundert und reicht weit in das 6. Jahrhundert
hinüber.

Die nächsthöhere Stoffgattung griechischer Richtung aus
Antinoe kann man als Rankenstoffe bezeichnen, weil die Pflanzen?
formen zunehmen und die geometrischen Bildungen zurück?
drängen. Die Blätter, Blüten und Palmetten werden zentral um
Sterne oder Rauten als Mittelpunkt in runden oder achtfach
ausgebogenen Scheiben angeordnet, die in versetzten Reihen
ohne Verbindung miteinander über die Fläche gelegt sind
(Abb. 37). Die Pflanzenformen verraten durchaus die antike
Herkunft und ihre Stilisierung weist diese Stoffe in das 6. Jahr?
hundert. Kennzeichnend ist ein Ornament aus zwei hornförmig
gekrümmten Blättern (auf unserer Abb. 37 in den Ausbuch?
tungen der Achtpässe), welchen wir bei den Seidenstoffen aus
Panopolis und Alexandria, die sicher dem 6. Jahrhundert an?
gehören, wieder begegnen werden.

Eine andere Art antinoischer Rankenstoff e verwendet fovU
laufende Ranken, die an den Kreuzungsstellen durch geome?
frische Figuren verbunden, ein zusammenhängendes Netz von
Kreisen (T. 1 a) oder Rautenfeldern herstellen. Der leider arg verwitterte Stoff in Lyon
(Abb. 38) gewährt eine Handhabe zur Datierung: die Birnen, die der sonst normal antiken
dickstengligen Ranke entwachsen, sind ein so wenig landläufiges Motiv, daß ihre Wieder?
kehr auf dem oströmischen Elfenbeindiptychon des Konsuls Justinus aus dem Jahr 540
(Abb. 39) den Schluß auf ungefähr gleichzeitige Entstehung rechtfertigt, umsomehr, als auch
die vierlappige, vom Akanthus abstammende Blattbildung (oder Halbpalmette) des Dipty?
chons in den Seidenstoffen von Antinoe (vgl. T. 2 a, b, d) und aus Panopolis (vgl. T. 3) eine
große Rolle spielt. Eine gute Bestätigung dieser Datierung auf die erste Hälfte des 6. Jahr?
hunderts ist einer dem Lyoner Stoff außerordentlich ähnlichen Ranke mit Birnen und Epheu?
blättern auf einem Pilaster in S. Clemente in Rom aus den Jahren 514 bis 523 zu ent?
nehmen.3)

In diesen Stoffen, denen eine Entwicklung der römisch?hellenistischen Seidenweberei
von wenigstens zwei bis drei Jahrhunderten vorausgegangen ist, erscheinen nun zum ersten?
mal in Antinoe als Felderfüllung Tiere in symmetrischer Verdopplung, also das Haupt?
motiv des mittelalterlichen Seidenstils, von dem die Musterzeichnerei bis zur Gotik gezehrt
hat. Die verschiedenen Formen der direkten Gegenüberstellung oder Rückenwendung, der
zu? und abgewandten Köpfe sind hier bereits alle vorhanden (vgl. T. la, T. 2a—d; Abb. 38,

*) Abgeb. Kurth, die Mosaiken der christl. Ära T. 30; deutlicher bei Dreger Entwicklung T. 8e.

2) Abgeb. Ricci, Ravenna S. 31, Venturi Storia I fig. 119 u. anderwärts.

3) Cattaneo, L'architettura in Italia fig. 8, S. 31.

Abb. 39. Justinusdiptychon, Byzanz 540.
Kaiser FriedrichsMuseum, Berlin.

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