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Falke, Otto von; Lessing, Julius
Kunstgeschichte der Seidenweberei: eine Auswahl der vorzüglichsten Kunstschätze der Malerei, Sculptur und Architektur der norddeutschen Metropole, dargestellt in einer Reihe der ausgezeichnetsten Stahlstiche mit erläuterndem Texte (Band 1) — Berlin, 1913

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https://doi.org/10.11588/diglit.19016#0114
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gers ') hat nur zu dem Ergebnis geführt, daß der Verkündigungsstoff auf christlichem Boden
und wahrscheinlich vor dem 10. Jahrh. entstanden sei. Schon die Betrachtung der gestielten
Palmette in den Zwickelfeldern führt uns weiter. Ein architektonisches Vorbild dieses
Blätterbündels ist in einem koptischen Sandsteinkapitell aus Theben, wiederum einem ägyp?
tischen Denkmal, im Museum zu Kairo erhalten2). Die Herkunft der Blätter vom antiken
Akanthus, welche die bunte Innenzeichnung des Gewebes einigermaßen verwischt, wird
dadurch klargelegt. Die Datierung ergibt sich aus einem Vergleich mit dem breiten Tunika;
besatz des Zacharias auf Tafel 3 b. Hier ist dieselbe Akanthuspalmette etwas vereinfacht
viermal wiederholt; und die Entstehung der Zachariasstoffe im 6. Jahrh. ist vorher nach?
gewiesen worden. Die quergestreiften und gekrümmten Blätter unter der Palmette des
Verkündigungsstoffes, die unorganisch aus den Blattwinkeln hervorsprießenden kleinen
Epheublätter können die Gleichzeitigkeit nur bekräftigen.

Mit dieser Datierung stehen die Figuren der Verkündigung und Geburt Christi durch?
aus im Einklang. Sie finden ihre nächsten Verwandten in den oströmischen Mosaiken
des 6. Jahrh. zu Ravenna. Der Typus der Maria gleicht am ehesten den Frauen am Grabe
in S. Apollinare nuovo, einem Mosaikbild aus der Zeit Theoderichs des Großen (-j- 526)3);
der Verkündigungsengel Gabriel steht dem Erzengel Michael im Apsismosaik des Kaiser
Friedrich Museums aus S. Michele in Affricisco4) und dem Erzengel zur rechten Hand
Christi in dem stilverwandten Apsisbild von S. Vitale 5) am nächsten. Hier ist die gleiche
würdig ruhige Haltung, eine ganz verwandte Behandlung der aus langer Tunika und schön
gefalteter Toga bestehenden Gewandung, die weiße Binde im dunklen Lockenhaar und
der geschulterte Stab. Letzterer erscheint übrigens auch auf der Maximianskathedra als
regelmäßiges Attribut der Engel, und im Verkündigungsrelief6) dieses der alexandrinischen
Kunst der ersten Hälfte des 6. Jahrh. mindestens sehr nahestehenden Denkmals ist die Bildung
der Hände des Engels mit dem Seidenstoff gradezu identisch. Auch der Geburt Christi,
ausgezeichnet durch den edlen Faltenwurf des grauköpfigen Joseph, fehlt es nicht an Be?
rührungspunkten mit den Ravennater Mosaiken. Die Felsenstufen des Bodens kehren in
der Concha von S. Vitale wieder, und das viereckige Lattengestell der Krippe ähnelt dem
Tisch im Abrahamsmosaik derselben Basilika7)-

Die ganze Denkmälerreihe von Ravenna fällt noch vor 550; das Apsismosaik in S. Vi?
tale wurde unter Bischof Ecclesius (525—534) ausgeführt, die Concha aus S. Michele 545
vollendet. Damit ist auch die Datierung des Seidenstoffes auf die erste Hälfte des 6. Jahrh.
gegeben.

Da die Entwicklung der spätantiken Musterzeichnerei dem allgemeinen Kunstverlauf
entsprechend vom Altertum nach dem Mittelalter zu in stilistischer Hinsicht keine auf?
steigende, sondern eine fallende war, so müssen die weniger vollendeten Gewebe der nächst;
folgenden Zeit zugeschrieben werden.

Original um etwa ein Viertel verkleinert, beide Teile aneinandergerückt. Die Tatsache, daß sie zu einem und
demselben Gewebe gehören, wird dadurch augenfällig. Es ist keineswegs ausgeschlossen, daß zum vollstän*
digen Rapport noch eine dritte oder vierte Bilderreihe gehört hat. Im Liber pontificalis werden Stoffe mit
mehreren biblischen Darstellungen erwähnt, wobei allerdings die Möglichkeit offenbleibt, daß es sich um
Stickerei handelt.

') Bei H. Grisar, Die römische Kapelle Sancta Sanctorum und ihr Schatz, S. 149.
2) Abgeb. Strzygowski, Koptische Kunst T. IV.

:!) Abgeb. Ricci, Ravenna S. 31; Diehl, Manuel d'art byzantin fig. 47.
') O. Wulff, Jahrbuch d. preuß. K. S. 1904.
"0 Diehl, Manuel fig. 101.
,;) Venturi I, fig. 296.

7) Diehl, Manuel fig. 99. — Die ganze felsige Grottenbildung des gewebten Geburtsbildes erinnert
noch an die berühmten, von Schreiber veröffentlichten altalexandrinischen Brunnenreliefs aus Palazzo Gri*
mani im Wiener Hofmuseum.

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