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Reflexion.
C~Tn einem tiefen
Wald im alten
Griechenland hauste
einst ein bejahrter
Einsiedler. Schon
seit seiner früh'sten
Kindheit lebte er
dort und hatte nie
die weite Welt mit
Augen geseh'n.
Aber seine Weis-
heit und Klugheit
war groß, denn er
hörte nicht auf, zu
lernen und zu stu-
dieren. — hundert
Folianten hatte er
auswendig gelernt,
und alle, die ihn
kannten, staunten
über seine Gelehrsamkeit. — Sein verstorbener Pflegevater —
auch ein Einsiedler — der ihn als Findelkind mitleidig aus-
genommen und erzogen, hatte ihn nun stets gewarnt vor der
üöseu Welt und ihm gar manche Schreckensgeschichte von ihr
erzählt, so daß er gar kein verlangen verspürte, sie kennen zu
lernen. Nur ab und zu hörte er Laute aus ihr herübertönen,
denn es kamen öfter Menschen, die sich seines Rates und seiner
Weisheit bedienen wollten. Und wenn er auch nicht viel von der
lUelt wußte, so waren seine Eingebungen doch so gut, daß er
ltets das Richtige traf. — Liebesleute, geprellte Bauern, Schmugg-
ler, die verfolgt wurden — und einmal sogar ein entsprungener
llkörder — suchten bei dem Gütigen Schutz und Rechtsspruch.
Aber alle waren sie in Bedrängnis — die zu ihm kamen —
tn Uot, Kummer, Angst und Sünde. — Keiner war frei!
Sein Urteil über die böse Welt verfinsterte sich immer mehr
^nd inniges Mitleid mit den armen Menschenkindern gab all'
seinem Tun das Gepräge. — Er dachte eifrig nach, ob ihm seine
Weisheit nicht nützen könne, um ihnen zu helfen — recht kräftig
und radikal zu helfen!
Da er nun rein und selbstlos war, hatte er, so oft er wollte.
Zutritt zum Thron des Allvaters Zeus. Und als der Wunsch,
die Welt zu bessern, eines Tages übermächtig in ihm geworden
war, machte er sich auf den Weg zum Glymp und trug dem Gott
sein Anliegen vor.
Dieser hörte ihn lächelnd an und nickte von Zeit zu Zeit.
Und als der Einsiedler geendet, sprach Zeus: „Dein ver-
langen ist edel und gut — aber Dein Wunsch ist unerfüllbar."
Traurig fragte der Einsiedler, woher dies harte Gesetz stamme
und warum die Welt so unverbesserlich sei.
„Weil die Menschen nicht schlecht sind, sondern — dumm."
„Und gegen die Dummheit sollte kein Kraut gewachsen sein?"
fragte mit wiedererwachendem Eifer der Alte.
„Nein!" lächelte der Gott.
„Nun, so schaffe ein'sl Du kannst ja alles I Und laß nüch's
versuchen, ob es wirkt!" — und bat und bettelte, bis endlich
Zeus nachgab.
So schuf der Gott eine schöne Blume mit einem edlen Duft
und sprach zu ihr: „Wer an dir riecht und den Wunsch hat,
seine Dummheit zu verlieren — der soll sie verlieren!" Dann
wandte er sich au den Greis und sprach: „Nicht Du selbst sollst
jedoch den versuch machen — denn Du würdest Dich nicht dazu
schicken. Ich sende kjermes in Gestalt eines Händlers zu den
Menschen und Du sollst mit mir zuschauen, wie es ihm gelingt."
Und Hermes ging auf den Marktplatz in Athen, und die Leute
fingen alsbald an, sich um ihn zu sammeln und neugierig zu
fragen, was er wohl feilbiete.
Jedoch nur einzeln nahm er sie beiseite, zeigte jedem die
Blume, erzählte von deren Wirkung und bat sie, doch zur Probe
d'ran zu riechen. — —
Da wichen die einen von ihm, als ob er aussätzig oder
— geisteskrank sei; die anderen lachten spöttisch auf und verließen
erhobenen Hauptes den Platz. Mancher ballte sogar wütend die
Reflexion.
C~Tn einem tiefen
Wald im alten
Griechenland hauste
einst ein bejahrter
Einsiedler. Schon
seit seiner früh'sten
Kindheit lebte er
dort und hatte nie
die weite Welt mit
Augen geseh'n.
Aber seine Weis-
heit und Klugheit
war groß, denn er
hörte nicht auf, zu
lernen und zu stu-
dieren. — hundert
Folianten hatte er
auswendig gelernt,
und alle, die ihn
kannten, staunten
über seine Gelehrsamkeit. — Sein verstorbener Pflegevater —
auch ein Einsiedler — der ihn als Findelkind mitleidig aus-
genommen und erzogen, hatte ihn nun stets gewarnt vor der
üöseu Welt und ihm gar manche Schreckensgeschichte von ihr
erzählt, so daß er gar kein verlangen verspürte, sie kennen zu
lernen. Nur ab und zu hörte er Laute aus ihr herübertönen,
denn es kamen öfter Menschen, die sich seines Rates und seiner
Weisheit bedienen wollten. Und wenn er auch nicht viel von der
lUelt wußte, so waren seine Eingebungen doch so gut, daß er
ltets das Richtige traf. — Liebesleute, geprellte Bauern, Schmugg-
ler, die verfolgt wurden — und einmal sogar ein entsprungener
llkörder — suchten bei dem Gütigen Schutz und Rechtsspruch.
Aber alle waren sie in Bedrängnis — die zu ihm kamen —
tn Uot, Kummer, Angst und Sünde. — Keiner war frei!
Sein Urteil über die böse Welt verfinsterte sich immer mehr
^nd inniges Mitleid mit den armen Menschenkindern gab all'
seinem Tun das Gepräge. — Er dachte eifrig nach, ob ihm seine
Weisheit nicht nützen könne, um ihnen zu helfen — recht kräftig
und radikal zu helfen!
Da er nun rein und selbstlos war, hatte er, so oft er wollte.
Zutritt zum Thron des Allvaters Zeus. Und als der Wunsch,
die Welt zu bessern, eines Tages übermächtig in ihm geworden
war, machte er sich auf den Weg zum Glymp und trug dem Gott
sein Anliegen vor.
Dieser hörte ihn lächelnd an und nickte von Zeit zu Zeit.
Und als der Einsiedler geendet, sprach Zeus: „Dein ver-
langen ist edel und gut — aber Dein Wunsch ist unerfüllbar."
Traurig fragte der Einsiedler, woher dies harte Gesetz stamme
und warum die Welt so unverbesserlich sei.
„Weil die Menschen nicht schlecht sind, sondern — dumm."
„Und gegen die Dummheit sollte kein Kraut gewachsen sein?"
fragte mit wiedererwachendem Eifer der Alte.
„Nein!" lächelte der Gott.
„Nun, so schaffe ein'sl Du kannst ja alles I Und laß nüch's
versuchen, ob es wirkt!" — und bat und bettelte, bis endlich
Zeus nachgab.
So schuf der Gott eine schöne Blume mit einem edlen Duft
und sprach zu ihr: „Wer an dir riecht und den Wunsch hat,
seine Dummheit zu verlieren — der soll sie verlieren!" Dann
wandte er sich au den Greis und sprach: „Nicht Du selbst sollst
jedoch den versuch machen — denn Du würdest Dich nicht dazu
schicken. Ich sende kjermes in Gestalt eines Händlers zu den
Menschen und Du sollst mit mir zuschauen, wie es ihm gelingt."
Und Hermes ging auf den Marktplatz in Athen, und die Leute
fingen alsbald an, sich um ihn zu sammeln und neugierig zu
fragen, was er wohl feilbiete.
Jedoch nur einzeln nahm er sie beiseite, zeigte jedem die
Blume, erzählte von deren Wirkung und bat sie, doch zur Probe
d'ran zu riechen. — —
Da wichen die einen von ihm, als ob er aussätzig oder
— geisteskrank sei; die anderen lachten spöttisch auf und verließen
erhobenen Hauptes den Platz. Mancher ballte sogar wütend die
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Reflexion"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Künstler/Urheber/Hersteller (GND)
Entstehungsdatum (normiert)
1912 - 1912
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
In Copyright (InC) / Urheberrechtsschutz
Creditline
Fliegende Blätter, 137.1912, Nr. 3517, S. 295
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg