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Der Vetter Eduard.

genden Hause verkündigt, als die Hausthürc geöffnet wurde,
der Lärm vieler Heraufstcigcndcr in das stille Zimmer drang
j und bald darauf ein Schwarm junger Herren und Damen
cintrat, die sich schleunigst unter munterem Plaudern und
j Schwatzen der Mäntel, Kragen, Hüte und Mützen entledigte.

Sie kamen aus dem Schauspiel. Eine Gesellschaft dra-
matischer Künstler beglückte seit einigen Wochen das Städtchen
mit ihrer Gegenwart und führte dem entzückten Publikum im
Saale des Rathhauses die neuesten Erzeugnisse der dramatischen
Muse vor. Das junge Volk war der Lockung gefolgt, mit
der löschpapierne Theaterzettel an allen Ecken der Straße
Schaulustige, einen höchst genußreichen Abend versprechend, in
den besagten Saal cinludcn und höchst befriedigt kehrten sic !
nun heim.

Die Frage: „Nun, wie wars denn?" beantwortete ein
vollstimmigcs: „Oh, 's war allerliebst! herrlich!'reizend!" —
Prinz Lieschen war gegeben worden, und Alle erschöpften sich
im Lobe des lustigen Stückes und der vortrefflichen Aufführung.
Besonders gut hatte, nach dem Urthcile der älteren Geschwister,
die Schauspielerin, welche Prinz Lieschen gab, ihre Rolle
durchgeführt. Die Fabel des Stückes wurde erzählt, und dabei
! immer wieder von neuem rühmend des ausgezeichneten Spieles
gedacht. — „Hm!" sagte der Pfarrer, „ich bin noch nicht zu
den Leuten gegangen, wollts auch nicht thun, cs will sich doch
nicht recht schicken, aber wenn sic Prinz Lieschen noch einmal
geben, möcht ich mir's doch auch einmal mit ansehen. Da
werd' ich dann sehen, ob die Rolle gut gespielt wird; ich muß
das beurthcilcn können, habe ich doch selbst einmal eine ähn-
; liche Rolle gespielt."

„Was, Onkel? Sic haben einmal gespielt? auf dem
Theater?"

„Ei, warum nicht gar! Nein, in der Wirklichkeit; ohne j
mein Wissen und Wollen, 's war bittrer Ernst, und die
Geschichte war mir damals gerade nicht zum Lachen!"

„Bitte, Onkel, wie war das? O bitte, erzählen Sie
das!" erscholl es von allen Seiten.

„Hm! ich sollte wohl lieber nicht," lächelte der Pfarrer,
„meine Rolle war nicht gerade sehr schmeichelhaft für mich,
aber meinetwegen!"

Die Gesellschaft rückte erwartungsvoll näher an den Tisch
heran, und der Pfarrer versank in ein kurzes sinnendes Schwei-
gen, während dessen er sich in jene entschwundene Zeit zurück
versetzen mochte, und hob dann an mit dem milden, halb-
wehmüthigen Lächeln, das wir in den Zügen älterer Leute oft
bemerken können, wenn sie von den Erlebnissen ihrer längst
vergangenen Jugend erzählen.

„Wir hatten es in unsrer Jugend nicht leicht," begann
er zu seiner Schwester gewendet, als wolle er diese zum Zeu-
gen aufrufen; die Angercdcte nickte auch bekräftigend. „Ich
i war erst neun Jahre alt, als die Eltern beide starben. Uebrig
, war so gut wie nichts, und nun hieß cs, was soll aus dem
Jungen werden? Unscrs Vaters Schwester, die vcrwittwete
Frau Bäckermeister Girbich, hat sich meiner damals angenom-
men und für mich gesorgt, wie nur eine Mutter für ihr

Kind sorgen kann; ich werd' es ihr nie vergessen. Muhme
Girbich erklärte: der Eduard soll mir ei» Pfarrer werden!
Und wenn die anderen Verwandten sagten: Aber, Frau Gir-
bich, dazu gehört Geld! Da erwiederte sic: Wird schon Rath
werden! Ich wohnte bei ihr, und die gute Frau, die wahr-
haftig nichts übrig hatte, sparte sichs am Munde ab, damit
ich das Gymnasium besuchen konnte. Leicht und angenehm
war übrigens mein Leben gerade nicht. Die gute Muhme
meinte cs unendlich treu mit mir, aber sie glaubte, vcrmuth-
lich um meinen Fleiß und Eifer zu erwecken, es sei noth-
wendig, mir so oft wie möglich vorzuhalten, wie ich nichts
hätte, und wie sauer cs ihr ankomme, das Nöthigc aufzu-
bringen. Die gute Seele verbitterte mir durch diese pädago-
gische Maßregel, ohne daß sic cs ahnte, die Jugendjahre gar
sehr. Ich war leider meistens immer unter den Letzten in
allen Classen. Das hatte aber seinen natürlichen Grund.
Vorragcnde und besondere Gaben habe ich nie gehabt, und
meine Lage war von der Art, daß es wirklich ganz besonderer ,
Fähigkeiten und eines vorzüglichen Eifers bedurft hätte, um
mit den Besseren gleichen Schritt zu halten. Meine Muhme
schien nämlich gar keinen Begriff davon zu haben, daß zum
Lernen Zeit gehöre, und daß, wo diese fehle, auch nichts ge-
leistet werden könne. Die gute Frau nahm fast meine ganze
schulfreie Zeit in Anspruch. Wir standen frühzeitig auf, aber i
dann half ich ihr bei der Bereitung des Frühstücks und dar- ;
auf nahm eine unglaublich lange Morgcnandacht eine Menge '
Zeit weg. Meine Muhme hatte keine Ahnung davon, daß
cs auch in der Erbauung ein „zu viel" geben könne, sie
meinte, je mehr, desto besser! Wie sangen zuerst ei» Lied und
dann wurde mir ein hoher Berg von Andachtsbüchern hin ge-
schoben, aus denen ich der Reihe nach das für jeden Tag
bestimmte Stück lesen mußte. Da waren geistliche Blumen-
sträuße, tägliche Morgen- und Abendopfcr, Morgcnbetracht-
ungen, Stunden der Andacht, Erhebung zu Gott und ich weiß
nicht mehr, was noch Alles für Bücher. Alle recht schön und i
gut, nur vergaß man bei der Menge der verschiedenartigsten
Sachen immer eins über das andere. Dann wurde gcfrüh-
stückt, und über alle diesem war die Zeit, zur Schule zu gehen,
nahe herangekommen. Wie oft habe ich in wahrer Todesangst
eine Betrachtung nach der anderen heruntcrgelesen, fortwährend
an nichts anderes denkend, als daß ich das Stück aus dem
Sallust oder Sucton, was ich auswendig zu lernen hatte, noch
gar nicht konnte. Dann schlich ich langsam den Klostcrmaucrn
zu, in dessen Räumen das Gymnasium seinen Sitz aufgcschla-
gcn und lernte im Gehen mit unsäglicher Angst und Hast,
um das Versäumte nachzuholen. An Sommerabenden mußte
ich meine Pflegemutter auf ihren Spaziergängen begleiten,
und im Winter, oder bei schlechtem Wetter hatte ich das Amt
ihr vorzulesen aus dem großen Martyrbuch oder aus Arnolds
Kirchcngeschichte oder sonst einem erbaulichen Werk in Folio
und in Schwcinslcder gebunden. — Oft war mir das Weinen
nahe genug, und sehnlichst wünschte ich mir den gehörigen
Muth, um der guten Frau einmal rund heraus zu sagen,
daß sic mir, wenn ich meine Arbeiten gut machen sollte, auch
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