20 Sentimentale Briefe.
von Wagen überfahren und 30 Mal von Menschenflnthen zer-
malmt würde. Hier auf den Straßen hat man nur Zeit, auf
seine geraden Glieder acht zu geben. Wenn Du mich fragst,
was Wien auf mich für einen Eindruck machte, so muß ich
Dir antworten: Gerade so wie ein Knäuel von himmelanstre-
benden Häusern mit Ankündignngssafeln bis zum Dache, Tau-
senden von Omnibussen, Equipagen, Comsortablcn, Schieb-
karren, schreienden, stoßenden, lachenden, streitenden Menschen-
wogen, Glockengelänte, ungeheuren Crinolinen und sehr viel
Militair, Hnndcgebell und brillanten Waarenniederlagen mit
feenhafter Gasbeleuchtung, dazu Klavierspicl ans allen Fen-
stern, Musikanten an allen Ecken, glühenden Sonnenhitze,
gräßlichem Staub und Wind und zwar dieß Alles von all-
! mächtiger Hand durcheinander geschüttelt, so daß Einem Hören
! und Sehen vergeht und man ängstlich und nervös aufseufzt.
Du siehst, das Durcheinander in dieser Stadt hat selbst auf
meinen Styl gewirkt, und den klar gedachten Satz gestört in
der künstlerischen Entfaltung.
Kann ein Künstler hier ruhig sein Werk concipiren und
ausführen? Nicht denkbar! Ich glaube, die Musen würden
hier bald selbst Klavier zu spielen anfangen, oder sich in einen
Omnibus setzen, um bald zum Sperl, bald zu Domayer oder
in den Wurstelprater zu fahren. Kurz ich sage Dir, mein
j sonst so stilles, poetisches Gemüth ist hier ganz ans Abwege
i gerathen. Wenn ich beim Aufstehen an die Nibelungen oder
an Karl den Großen, den zweiten Begründer dieser Kaiserstadt
denke, und ich blicke zum Fenster hinaus ans die tosende,
! menschenwimmelnde Straße, ans diese echte Repräsentanz des
i neunzehnten Jahrhunderts, so werde ich so konfus, so ganz
gefangen von dem was ich höre und sehe, daß ich ans die
j Nibelungen und Carolus Magnus total vergesse. Mein dent-
! sches Herz fühlt dann zwar einen Biß des Gewissens, doch
die Neugierde siegt bald, und auch mein guter Bater läßt
mir nicht lange Zeit mich in poetischen Empfindungen zu er-
gehen. Meine Leonie! Ich schließe für heute meinen Bericht.
! Doch bald ein Weiteres. Noch bin ich zu sehr verwirrt, um
■ mehr schreiben zu können. Adieu! Fare tliee well!
Deine
Laura Fischer.
Nachschrift.
Heute war ich in der Stephanskirchc. O über deren
Alles besiegende, seelengewinnende Majestät! Sie macht es uns
begreiflich, daß Liebe, Kunst, Religion und Poesie — Eines
ist, von einer allbeglückcndcn Wesenheit, und nur dem Grade
nach und dem äußeren Antlitz nach — verschieden. Abends
wollen wir ins Theater am Franz Josephs-Quai gehen, um
uns an einer Offenbach'schen Operette zu erquicken. Ich aber
neige mein Haupt und drücke Dir den Kuß der Liebe auf
Deine Beilchenangen. Ewig Deine
unvergeßliche Lanrcttc.
Preußischer Staatsseufzer.
„Ein Schifflein ohne Steuer
Das ist ein trauriges Ding.
Ein Fischlein ist's ohne Flossen,
Ein Vöglein ohne Schwing."
Doch trauriger bei Weitem
Ist ohne Steuer ein Staat,
Besonders wenn er einen
Herrn Kriegsminister hat!
Das thenre Vaterland.
Löbche: „Nu Aette wie haist? „Ans Vaterland an's
thenre schließ dich an!" warum soll ich mer denn gerad an's
thenre anschließen?"
von Wagen überfahren und 30 Mal von Menschenflnthen zer-
malmt würde. Hier auf den Straßen hat man nur Zeit, auf
seine geraden Glieder acht zu geben. Wenn Du mich fragst,
was Wien auf mich für einen Eindruck machte, so muß ich
Dir antworten: Gerade so wie ein Knäuel von himmelanstre-
benden Häusern mit Ankündignngssafeln bis zum Dache, Tau-
senden von Omnibussen, Equipagen, Comsortablcn, Schieb-
karren, schreienden, stoßenden, lachenden, streitenden Menschen-
wogen, Glockengelänte, ungeheuren Crinolinen und sehr viel
Militair, Hnndcgebell und brillanten Waarenniederlagen mit
feenhafter Gasbeleuchtung, dazu Klavierspicl ans allen Fen-
stern, Musikanten an allen Ecken, glühenden Sonnenhitze,
gräßlichem Staub und Wind und zwar dieß Alles von all-
! mächtiger Hand durcheinander geschüttelt, so daß Einem Hören
! und Sehen vergeht und man ängstlich und nervös aufseufzt.
Du siehst, das Durcheinander in dieser Stadt hat selbst auf
meinen Styl gewirkt, und den klar gedachten Satz gestört in
der künstlerischen Entfaltung.
Kann ein Künstler hier ruhig sein Werk concipiren und
ausführen? Nicht denkbar! Ich glaube, die Musen würden
hier bald selbst Klavier zu spielen anfangen, oder sich in einen
Omnibus setzen, um bald zum Sperl, bald zu Domayer oder
in den Wurstelprater zu fahren. Kurz ich sage Dir, mein
j sonst so stilles, poetisches Gemüth ist hier ganz ans Abwege
i gerathen. Wenn ich beim Aufstehen an die Nibelungen oder
an Karl den Großen, den zweiten Begründer dieser Kaiserstadt
denke, und ich blicke zum Fenster hinaus ans die tosende,
! menschenwimmelnde Straße, ans diese echte Repräsentanz des
i neunzehnten Jahrhunderts, so werde ich so konfus, so ganz
gefangen von dem was ich höre und sehe, daß ich ans die
j Nibelungen und Carolus Magnus total vergesse. Mein dent-
! sches Herz fühlt dann zwar einen Biß des Gewissens, doch
die Neugierde siegt bald, und auch mein guter Bater läßt
mir nicht lange Zeit mich in poetischen Empfindungen zu er-
gehen. Meine Leonie! Ich schließe für heute meinen Bericht.
! Doch bald ein Weiteres. Noch bin ich zu sehr verwirrt, um
■ mehr schreiben zu können. Adieu! Fare tliee well!
Deine
Laura Fischer.
Nachschrift.
Heute war ich in der Stephanskirchc. O über deren
Alles besiegende, seelengewinnende Majestät! Sie macht es uns
begreiflich, daß Liebe, Kunst, Religion und Poesie — Eines
ist, von einer allbeglückcndcn Wesenheit, und nur dem Grade
nach und dem äußeren Antlitz nach — verschieden. Abends
wollen wir ins Theater am Franz Josephs-Quai gehen, um
uns an einer Offenbach'schen Operette zu erquicken. Ich aber
neige mein Haupt und drücke Dir den Kuß der Liebe auf
Deine Beilchenangen. Ewig Deine
unvergeßliche Lanrcttc.
Preußischer Staatsseufzer.
„Ein Schifflein ohne Steuer
Das ist ein trauriges Ding.
Ein Fischlein ist's ohne Flossen,
Ein Vöglein ohne Schwing."
Doch trauriger bei Weitem
Ist ohne Steuer ein Staat,
Besonders wenn er einen
Herrn Kriegsminister hat!
Das thenre Vaterland.
Löbche: „Nu Aette wie haist? „Ans Vaterland an's
thenre schließ dich an!" warum soll ich mer denn gerad an's
thenre anschließen?"
Werk/Gegenstand/Objekt
Pool: UB Fliegende Blätter
Titel
Titel/Objekt
"Preußischer Staatsseufzer" "Das theure Vaterland"
Weitere Titel/Paralleltitel
Serientitel
Fliegende Blätter
Sachbegriff/Objekttyp
Inschrift/Wasserzeichen
Aufbewahrung/Standort
Aufbewahrungsort/Standort (GND)
Inv. Nr./Signatur
G 5442-2 Folio RES
Objektbeschreibung
Maß-/Formatangaben
Auflage/Druckzustand
Werktitel/Werkverzeichnis
Herstellung/Entstehung
Entstehungsort (GND)
Auftrag
Publikation
Fund/Ausgrabung
Provenienz
Restaurierung
Sammlung Eingang
Ausstellung
Bearbeitung/Umgestaltung
Thema/Bildinhalt
Thema/Bildinhalt (GND)
Literaturangabe
Rechte am Objekt
Aufnahmen/Reproduktionen
Künstler/Urheber (GND)
Reproduktionstyp
Digitales Bild
Rechtsstatus
Public Domain Mark 1.0
Creditline
Fliegende Blätter, 36.1862, Nr. 863, S. 20
Beziehungen
Erschließung
Lizenz
CC0 1.0 Public Domain Dedication
Rechteinhaber
Universitätsbibliothek Heidelberg