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Fechter, Werner
Das Publikum der mittelhochdeutschen Dichtung — Heidelberg, 1935

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https://doi.org/10.11588/diglit.53422#0015
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Wir müſſen nicht nur die Gebenden kennen, auch die
Empfangenden, nicht nur das Samenkorn, auch den Boden,
auf den es fällt. Guſtav Roethe.

Unſere Literaturgeſchichte kümmert ſich zwar um Leben und Geſtalt der Dich—
ter, um Vorgeſchichte und Entſtehung, um Sinn und Bedeutung der Werke,
vernachläſſigt aber die Frage nach dem literariſchen Publikum.
Und doch gehört die Wirkung zum Werk wie die Wärme zum Feuer. Ein Ton,
der nicht vernommen wird, iſt nicht da, und ein Werk, das nicht zu den Men—
ſchen redet, iſt ſo gut wie nicht geſchaffen. Noch immer galt das Goethe⸗Wort:
„Was wäre ich ohne dich, Freund Publikum! All mein Empfinden Selbſtge—
ſpräch, al meine Freuden ſtumm“ (Frankfurt 1223).

Der Dichter erwartet Hörer und Leſer. Schon bei der Arbeit am Werk
wird er dadurch aufs ſtärkſte beeinflußt, und der Widerhall ſeiner Schöpfungen
hemmt oder fördert ihn aufs neue. Denn auf Anerkennung und Erfolg kann er,
will er es auch nicht immer eingeſtehen, doch nie verzichten.

Aber kein Werk bleibt dauernd lebendig, kein Dichter ſpricht zum ganzen
Volk oder gar zur Menſchheit. Jeder wendet ſich an einen bei aller Ausge⸗
dehntheit doch begrenzten Kreis, und immer bildet die gleiche Weltanſchauung
die Vorausſetzung vollen Verſtehens und zuſtimmender Aufnahme. Kennt
man das Publikum, kann man erſt ein Werk richtig beurteilen.

Es wird jedoch nicht nur die Dichtung am Publikum, ſondern auch das
Publikum an ſeinen Büchern erkannt. Es kennzeichnet die geiſtige Haltung
einer Zeit und einer Geſellſchaft nicht nur, was ſie hervorbringt, ſondern auch,
was ſie lieſt und was nicht. Eine Geiſtesgeſchichte hat ſich alſo nicht nur mit
den Lebenden zu befaſſen, ſondern auch mit denen, die nachwirken. In eine
derartige Anterſuchung für unſere Tage gehören doch Kleiſt und Hölderlin nicht
weniger als Gerhart Hauptmann oder Stefan George.

So muß zurüblichen Literaturgeſchichte „vvon oben“
die vvon untent, zur Oichter die Puplikumsgeſchichte
treten, zur Betrachtung des gebenden Einzelmenſchen
die Beſchäftigung mit dem Leſer- und Hörerkreis, mit
der empfangenden Gemeinſchafti.

Eine ſolche Arbeit ſtößt natürlich auf gewiſſe Schwierigkeiten, und die vor—
liegende Unterſuchung hatte umſo mehr mit ihnen zu kämpfen, als ſie ſich einem

vgl. dazu u. a.: G. Roethe, Vom literariſchen Publikum in Deutſchland
(1902), auch in ſeinen Deutſchen Reden (1927) S. 204- 22 enthalten; £. £.
Schücking, Soziologie der literariſchen Geſchmacksbildung (2. Aufl. 1931) ; R. Mül⸗
ler-Freienfels, Bücher und ihr Publikum, in E. Heilborns „Literatur“ 34 (1032)
665—7; weiteres bei E. Rothacker, Dt. Vjſchr. 11 (1933) 145 ff.

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