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Fechter, Werner
Das Publikum der mittelhochdeutschen Dichtung — Heidelberg, 1935

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https://doi.org/10.11588/diglit.53422#0016
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faſt unüberſehbaren und ſo gut wie nicht geſichteten Material gegenüber ſah.
Aber die Frage nach dem Publikum läßt ſich für die mhd. Dichtung doch leich—
ter beantworten als etwa für die moderne Literatur. Das liegt erſtens an der
Eigenart der mittelalterlichen Geſellſchaft und zweitens an der durch Ent—
ſtehung, Verbreitung und Weſen der mhd. Poeſie bedingten Eigenart der
Quellen.

Die mittelalterliche Geſellſchaft war ſtändiſch aufgebaut.
Dieſe Gliederung trennte zwar das Volk in ſtreng von einander abgeſchloſſene
Schichten, ordnete aber den Einzelnen in eine feſte Gemeinſchaft ein. Jeder
Stand hatte ſeine beſondere Lebenshaltung, Wertungsart und Geiſtesverfaſ—
ſung, ja, ſeinen eigenen Kulturbeſitz. Das Standesbewußtſein war ſo groß,
daß es Völkergrenzen überſchritt und etwa das abendländiſche Rittertum ſich
über alle Volks- und Stammesunterſchiede hinweg den anderen Ständen
gegenüber als Einheit fühlte.

Dieſes Rittertum war in jeder Hinſicht maßgebend und führend. Sein Ein—
fluß machte ſelbſt vor Religion und Kirche nicht halt und dauerte noch an, als
ſeine politiſche Macht ſchon längſt im Sinken war. Nach außen ſtellte es einen
geſchloſſenen Stand dar; in ſich war es allerdings nicht einheitlich. Der aus den
Fürſten, Grafen und Freiherren beſtehende Hochadel, der ehemals unfreie
Miniſterialenadel und das ſtädtiſche Patriziat hoben ſich, wenn auch nicht im
Commercium, ſo doch hinſichtlich des Conubiums ſtark von einander ab. Dazu
kamen landſchaftliche Verſchiedenheiten. Aber das hinderte nicht, daß der Adel
ſich im ganzen als eine durch gemeinſamen Waffenberuf und gemeinſame
Cehensfähigkeit verbundene große Lebensgemeinſchaft wußte und ſich als ſolche
den anderen Ständen gegenüber abſchloß.

Auch die Städte unterſtanden lange ſeinem Einfluß, und langwierige Aus⸗
einanderſetzungen mit dem adeligen Biſchof und ſeinen Miniſterialen und
mit den Geſchlechtern, dem Stadtadel, bezeichnen den Weg, den das Bürger—
tum bis zur völligen Freiheit zu gehen hatte. Es beſtand aus den Kaufleuten
und den ihrerfeit® in den Zünften vereinigten Handwerkern und war wie der
Adel ein nach außen geſchloſſener, im Innern aber doch gewiſſe nterſchiede,
vor allem zwiſchen Groß- und Kleinbürgertum aufweiſender Stand, deſſen
politiſche und kulturelle Bedeutung ſtändig wuchs.

Als gegen Ausgang des Mittelalters die alten Standesgrenzen nicht mehr
ſo ſcharf gezogen waren, legte ſich verbürgerter Landadel und zum Junkertum
aufgeſtiegenes Bürgertum als Zwiſchenglied zwiſchen beide Schichten.

Saneben gab e& den Bauernſtand und den Klerus. Das Bauerntum braucht
uns hier nicht weiter zu beſchäftigen; weder als Schöpfer noch als Publikum
der mhd. Dichtung kommt es in Frage.

Der Klerus aber war kulturell ſehr tätig. Auch hier hat man die höhere,
die niedere und die Ordensgeiſtlichkeit auseinanderzuhalten. Die Vnterſchiede
waren beträchtlich und wurden empfunden. Die geiſtlichen Würdenträger zähl⸗
ten zum Adel, aus dem ſie auch faſt ausnahmslos ſtammten, die niedere
Geiſtlichkeit dagegen, die nur der Seelſorge zu dienen hatte, ſtand ſozial weit
tiefer.

Entbehrt alſo die mittelalterliche Geſellſchaftsordnung auch nicht der Ver—

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