Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Polska Akademia Umieje̜tności <Krakau> / Komisja Historii Sztuki [Hrsg.]; Polska Akademia Nauk <Warschau> / Oddział <Krakau> / Komisja Teorii i Historii Sztuki [Hrsg.]
Folia Historiae Artium — NS: 11.2007(2008)

DOI Artikel:
Boesten-Stengel, Albert: Himmelfahrt und Höllensturz?: Bilderfindung und Typengeschichte in Michelangelos Jüngstem Gericht
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.20622#0039
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Michelangelo als Seelenwager

Die Assimilierung der Erwahlten wie der Ver-
dammten an die Gestalt und teilweise auch Flug-
fahigkeit der Engel ist das anschauliche Aquivalent
der Verwandlung, welche die Menschen am Jiingsten
Tag erfahren. Doch werden sie dadurch wenigstens
bei Michelangelo nicht alle schlechthin gleich. Con-
divi betont vielmehr, daB der Kiinstler einen jeden
durch die ihm eigene Handlung und Bewegung indi-
vidualisiert habe. Er entdeckt solche Differenzierung
schon unten links im Bild bei den gerade vom Toden
Erweckten. Es sei erbaulich zu sehen, wie einige sich
mit Miihe und Gewalt der Erde entwinden, andere
mit zum Himmel erhobenen Armen den Flug zu
beginnen suchen, wiederum andere sich schon in die
Liifte erhoben haben, die einen mehr, die anderen
weniger in unterschiedlichen Gesten und Weisen —
„chi piu, chi meno in vari gesti et modi”26.

In diesem Mehr und Weniger bekundet sich die
Individualitat der Erweckten. Sie ist nicht Zeichen
der Verwandlung, sondern ihres fruheren Lebens.
Wir werden sie ganz unmittelbar auf den theo-
logischen Gedanken des individuellen Gerichts
beziehen. Dahin leitet uns auch Condivis Bildbe-
schreibung: „in dem mittleren Teil der Liifte, nahe
dem Erdboden, befinden sich die sieben von Sankt
Johannes in der Apokalypse beschriebenen Engel,
die mit den Posaunen am Mund die Toten aus den
vier Weltgegenden zum Gericht rufen. Zwischen
ihnen sind zwei weitere, die [je] ein offenes Buch in
den Handen halten, ais habe jeder, wenn er in ihm
liest und sein vergangenes Leben erkennt, von sich
aus das Urteil iiber sich zu fallen”27.

In der Johannes-Apokalypse geben die Biicher
Zeugnis von den Taten eines jeden. Wer nicht im
Buch des Lebens yerzeichnet sei, gehore zu den Ver-
worfenen. Die Biicher symbolisieren die untriigliche
Beweisfiihrung des unabwendbaren, schon durch das
gelebte Leben determinierten Urteils. Bei Michelan-
gelo erhalten die Biicher hingegen eine diskursive
Funktion: Sie werden den Subjekten des Gerichts
appellativ entgegengehalten. Ais sei es jedem aufge-
ben, sich nach der Bilanz des eigenen Lebens selbst
zu beurteilen. Nun erblicken wir im Gerichtsbild
keine Figur, die ganz wortlich in den Biichern łase.
Wir sind yielmehr darauf yerwiesen, an den atti und

26 Condivi, in Frey (wie Anm. 6), S. 160-162.

27 Condivi, in Frey (wie Anm. 6), S. 160: „nella parte di
mezo del aria, vicini alla terra, sono li sette agnioli, scritti
da San Giovanni nel’ Apocalipse, che colle trombe a bocca

moti zu erkennen, was im einzelnen hier jeder iiber
sich selbst hatte erfahren konnen.

An jedem der Auferstandenen ist eine andere
Leichtigkeit oder Miihe des Aufstiegs, ein anderes
Auffliegen oder Zuriickbleiben zu beobachten. Dies
geht so weit, daB wir, inmitten aller Bewegung
und Aktiyitat, sogar vollig bewegungslose und
untatige Figuren entdecken. Es fehlt in der Miche-
langelo-Literatur nicht die Vermutung, daB ihre
Siinde im Leben eben in Unterlassung oder acedia
(also Tragheit des Herzens) bestanden habe. Doch
erschlieBt sich ihre Bedeutung, wie ich meine, erst
im Kompositionszusammenhang. Zwei Beispiele
hat Michelangelo durch formale Gegeniiberstellung
heryorgehoben.

Unmittelbar rechts neben der zentralen Gruppe
der Engel mit den Posaunen und Biichern bemer-
ken wir die Figur eines halb aufgerichteten, halb
zusammengezogen kauernden Mannes, ais wolle er
sich ducken und schiitzen. Er bedeckt ein Auge mit
der Hand. Der yerbleibend schreckensstarre Blick
yerrat indessen, daB sein Gedanke furchtbarer ist
ais alles, was er sehen konnte. Er ist nicht in einen
der Luftkampfe yerwickelt. Die Engel schenken ihm
keine Beachtung. Hingegen miihen sich gleich drei
Boten der Holle, das sind eine Schlange und zwei
Teufel, mit aller Gewalt, ihrem ganzen Gewicht und
doch bislang yergeblich an ihm ab. Eine unsichtbare
Kraft scheint ihn wider Erwarten und ohne sein
Zutun in der Hohe zu halten.

Man konnte bei seiner Mimik an die anagnorisis
der griechischen Tragodie denken, also die BewuBt-
werdung eigener Verfehlung, die den tragischen Hel-
den in unabwendbarer Nachtraglichkeit trifft. Nach
Aristoteles’ Poetik ist sie ein Sonderfall der Peripetie.
Im christlichen Gerichtsbild wiirde sie Erkenntnis
der Verfehlung ohne Hoffnung auf gottliches Er-
barmen bedeuten. Wichtig scheint mir jedoch, daB
wir ais Betrachter bei Michelangelo in Unkenntnis
iiber den Ausgang des Dramas bleiben. Es fehlen
hier die Richtungsindikatoren fur Himmelfahrt oder
Hollensturz. Der Mann yerharrt yielmehr, selbst
regungslos, aber wie von starken entgegengesetzten
Kraften gehalten an seinem Ort.

Dies gilt auch fur das Beispiel unmittelbar links
von der Posaunenengelgruppe, nun auf der Seite
der Erwahlten. Auch diese armen Siinder yerharren

chiamano i morti al giuditio dalie ąuattro parti del mondo;
tra i quali ne son due altri eon libro aperto in mano, nel quale
ciascheduno leggendo et riconoscendo la passata vita, habbia
quasi da se stesso a giudicarsi”.

33
 
Annotationen