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Polska Akademia Umieje̜tności <Krakau> / Komisja Historii Sztuki [Hrsg.]; Polska Akademia Nauk <Warschau> / Oddział <Krakau> / Komisja Teorii i Historii Sztuki [Hrsg.]
Folia Historiae Artium — NS: 11.2007(2008)

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Boesten-Stengel, Albert: Himmelfahrt und Höllensturz?: Bilderfindung und Typengeschichte in Michelangelos Jüngstem Gericht
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https://doi.org/10.11588/diglit.20622#0038
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zum Abschied den Mantel. In dem anderen20 ist
Christus auf der Hohe des Berges zu sehen. Seine
leicht angewinkelten Beine und hangenden FiiBe si-
gnalisieren, daB er sich vom Boden gelost hat. Beide
aber, Elias und sogar Christus, bewerkstelligen dies
nur mit sichtbarer Unterstiitzung der Engel.

Auch in Michelangelos Gerichtsbild sind es Engel,
die den Aufsteigenden tatige Hilfe leisten. Diese En-
gel, bartlose jungę Manner, sind abgesehen von ihrer
spezifischen Aktiyitat nur durch eine Haarbinde von
den Menschen unterschieden. Die Tainia, urspriing-
lich antikes Abzeichen der siegreichen Athleten,
dann in der friihen christlichen Kunstgeschichte
Merkmal der Engel, hatte Michelangelo bereits fur
die ignudi der Deckenfresken adaptiert, die iibrigens
erst in einem Beitrag von Edgar Wind 1960 ikono-
graphisch korrekt ais „Engel” bestimmt wurden21.
Bei einigen der Helferfiguren des Gerichtsbildes
fehlt sogar dieses Merkmal der Haarbinde, so daB
wir nicht entscheiden konnen, ob sie Engel oder
Menschen yerkorpern. Die Ununterscheidbarkeit ist
meines Erachtens beabsichtigt. Sie veranschaulicht
genau eine bestimmte Aussage des Evangeliums. Bei
Lukas (Lukas 20, 36) erklart Jesus die Seinsweise der
Menschen am Tag des Gerichts und in der zukiinfti-
gen Welt: „Sie konnen auch nicht mehr sterben, weil
sie den Engeln gleich und durch die Auferstehung zu
Sohnen Gottes geworden sind”. Nach der Vulgata:
„aequales enim angelis sunt et filii sunt Dei”.

Ich halte diese Stelle, die bisher von Michelangelo-
forschern beharrlich iibersehen wird, fur den Nukleus
des Bildgedankens, der beide Seiten des Gerichtsbil-
des zusammenhalt und dariiber hinaus an die yisuelle
Botschaft der sixtinischen Decke ankniipft. Rudolf
Kuhn fand fur die Nacktheit der dortigen Engel-/g-
nudi kein Yorbild in der traditionellen Ikonographie

20 Abgebildet bei B. Brenk, Spatantike undfriihes Chri-
stentum, Berlin 1977 (Propylaen-Kunstgeschichte, Supple-
mentband 1), Abb. 89-

21 Vgl. E. Wind, Michelangelo’s Prophets and Sibyls, Pro-
ceedings of die British Academy, 51: 1960, S. 47ff, hier: S. 78ff.

22 Vgl. R. Kuhn, Michelangelo — Die sixtinische Decke. Bei-
trdge iiber ihre Ouellen und zu ihrer Auslegung, Gottingen 1975,
S. 52ff.

23 B. Przybysz ewski, Chrystocentryzm w „Sądzie Osta-
tecznym” Michała Anioła, Analecta Cracoviensia, 4: 1972, S.
379—407, besonders S. 402—404, halt de Tolnays fatalistisch-
tragischem Strafgericht die „Christozentrik” des sixtinischen
Gerichtsbildes und damit dessen ganz bibelkonforme Heils-
botschaft entgegen. Eher miiBte man hingegen fragen, was
es bedeutet, daB der Kiinstler alle Theologie nur insofern
beriihrt, ais er sie mimetisch in corpi, atti und moti verwandelt:
so ais sei Mimesis der Anfang und das Ende der Welt.

der Engel22. Doch ist der Sinn der Bilderfindung
Michelangelos evident. Der Kiinstler assimiliert die
Menschen des Jiingsten Tages, die Engel und selbst
Christus durch die rein menschliche Gestalt. Hier
schlieBt sich der Assoziationskreis hin zu der ganz
figiirlichen Gottessohnschaft Adams im Schop-
fungsbericht der sixtinischen Decke. Den Kiinstler
interessierte an der Heiligen Schrift, was den Kiinstler
anzugehen schien. Er beobachtete in Gott den ersten
Bildner und entwarf die ganze Heilsgeschichte mime-
tisch von der Gottesebenbildlichkeit her23.

Wer Paulus’ Rede von den Verwandelten und
Entriickten des Jiingsten Tages folgend das selbstan-
dige Aufschweben in Michelangelos Gerichtsbild (in
Analogie zur Himmelfahrt Christi) ais Merkmal der
Erwahlten versteht, wird zu seiner Irritation bemer-
ken, daB auch auf der Seite der Verdammten einige
iiber Auftriebskrafte verfiigen. Sie veranschaulichen
zunachst nicht den Hóllensturz, sondern ganz ent-
gegengesetzt ihren selbstandigen Aufstiegsdrang.
Eine Phalanx kampfender Engel ist eigens damit
beschaftigt, sie abzufangen und ihnen den weiteren
Aufstieg zu yerwehren. Diese Luftkampfe scheint
Condivi zu meinen, wenn er von Engeln spricht, die
ausgesandt seien, die Verworfenen {i reprobi), die sich
aus Kiihnheit (audacia) bereits in die Liifte erhoben
hatten, auf die Erde zuriickzutreiben24.

Nach der auf Lukas beruhenden Theologie eignet
die Engelsgleićhheit allen Auferstandenen des Jung -
sten Tages, den Erwahlten wie den Verdammten.
Michelangelo stattet sie entsprechend mit einem tra-
ditionellen Merkmal der Engel aus, namlich mit der
Flugfahigkeit. Sie evoziert schlieBlich das Schicksal
der gefallenen Engel, einer in der Johannes-Apoka-
lypse yorausgesetzten, aber ansonsten apokryphen
Episode vom Anfang der Weltschopfung25.

24 Condivi, in Frey (wie Anm. 6), S. 162: „si veggiono li
angeli tra cielo et terra, come essecutori della diuina sentenza
[...] correre [...] nella sinistra per ributtare a terra i reprobi, che
gia per sua audacia si fussino inalzati”.

25 Vasari berichtet in der 1568er Ausgabe seiner Vite, daB
Papst Clemens VIE beabsichtigt habe, Michelangelo nicht nur
mit dem Jiingsten Gericht, sondern auch mit einem Engelssturz
zu beauftragen, der die Eingangswand der sixtinischen Kapel-
le schmiicken sollte. Vgl. Ch. de Tolnay, Michelangelo, V:
The Finał Period, Princeton (New Jersey) 1960, S. 22 u. 103f.
Vasaris Nachricht erortert zuletzt ausfuhrlich J. Shearman,
U na nota sul progetto di Papa Giulio [in:] K. Weil-Garris Brandt
(Hrsg.), Michelangelo, la Cappella Sistina. Atti del Convegno In-
temazionale di Studi, Roma, marżo 1990, 3 Bde., Rom 1994,
Bd. 3, S. 29—36, hier S. 33. Siehe auch Barnes (wie Anm.
11), S. 29 und 48.

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