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Polska Akademia Umieje̜tności <Krakau> / Komisja Historii Sztuki [Hrsg.]; Polska Akademia Nauk <Warschau> / Oddział <Krakau> / Komisja Teorii i Historii Sztuki [Hrsg.]
Folia Historiae Artium — NS: 11.2007(2008)

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Boesten-Stengel, Albert: Himmelfahrt und Höllensturz?: Bilderfindung und Typengeschichte in Michelangelos Jüngstem Gericht
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https://doi.org/10.11588/diglit.20622#0040
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unentschieden zwischen Himmel und Erde. Indes-
sen sind hier die antagonistischen Krafte gerade
umgekehrt verteilt. Die beiden klammern sich und
hangen an eine rosenkranzartige Kette. Sie richten
zaghaft flehende Blicke hinauf.

Der athletische Engel, der das andere Ende der
Kette ha.lt, hat ihre Rettung noch nicht wirklich ge-
leistet. Keine Damonen zerren an den beiden. Doch
signalisieren die gespannte Kette und ihr Habitus
Schwere und Kraftlosigkeit zugleich.

Beide Beispiele sind durch ihre Position rechts
und links von der zentralen Posaunenengelgruppe
formal aufeinander bezogen. Schwere und Auftrieb
der Figuren, so mochten wir spontan vermuten,
veranschaulichen den Anteil eigener, im irdischen
Leben unterlassener oder geiibter Tugend, den sie in
ihr individuelles Gericht einbringen. Dieser Anteil
verbindet sich mit der yerstarkenden oder entge-
genwirkenden Aktivitat der Engel und Damonen zu
einem Parallelogramm der Krafte, dessen Resultante
mimetisch vorgefiihrt wird. Die meisten streben
mehr oder weniger rasch einem vorhersehbaren Ziel
zu. Diese hier aber yerkorpern die UngewiBheit des
Ausgangs. Sie teilt sich uns um so deutlicher mit,
ais wir eine Paradoxie empfinden: die beiden auf
der linken Seite erfahren gottlichen Beistand trotz
ihrer Schwere, der andere, yereinzelte auf der rech-
ten Seite, befindet sich trotz seines Auftriebs in den
Fangen der Damonen.

Die UngewiBheit erfaBt selbst die Gottesmutter
in der oberen Zonę des Bildes — in Condivis Beschrei-
bung: „seine Mutter, etwas fruchtsam im Ausdruck
und gleichsam yerunsichert im Hinblick auf den
Zorn und Geheimen RatschluB Gottes, drangt sich
so gut sie kann an ihren Sohn”28. Angespielt ist
hier auf ihre Rolle ais Mittlerin oder Fiirbitterin, ais
Mana awocata. MichelangelosJiingstes Gericht ist ein
yielfiguriges Interzessionsbild. Maria selbst zeigt sich
mit vor der Brust yerschrankten Armen ais demiitig
bittende, die indessen den Blick nicht von ihren
Schiitzlingen abwendet. Eben die Demutsgebarde
der yerschrankten Arme kehrt wieder bei einer der
Figuren, die sich an der Rosenkranzschnur hiingend
den Rettungsbemiihungen des Engels anvertrauen.
Nach allem bemerken wir diese beiden doch auf der
besseren Seite, namlich auf der der Erwahlten. Ais
sei ihre demonstrative Schwache gerade von Vorteil,

28 Condivi, in Frey (wie Anm. 6), S. 166: „a mądre sua, ti-
morosetta in sembiante et quasi non bene assicurata del ira et
secreto de Iddio, trarsi ąuanto piu puó sotto il figliuolo”.

29 Gnade finden namlich, nach der Sentenz der Bergpre-
digt, die Armen vor Gott.

wenn es gilt, den gottliche Beistand zu empfangen29.
Und ais sei die Starkę des anderen auf der Seite der
Verdammten gerade sein Nachteil. Seine Verzweif-
lung ist nurmehr die Kehrseite des Stolżes, der ihn
seine Bediirftigkeit vor Gott yerleugnen lieB.

So bewahrheitet sich zuletzt, daB die zentrale
Gruppe der Engel mit den Biichern und den Po-
saunen ein Scharnier darstellt, aber nicht das eines
fatalistischen Rads der Fortuna, sondern einer
Waage, italienisch bilancia, die — und sei es nur im
dramatischen Augenblick — unentschieden in der
Schwebe bleibt. Den Erzengel Michael in der Rolle
des Seelenwagers werden wir im yorliegenden Ge-
richtsbild yergeblich suchen. Der Kiinstler, der den
Namen dieses Engels tragt, hat die Seelenwagung in
die Gerichtssubjekte, in ihre Handlungen und Be-
wegungen, und schlieBlich in den Betrachter selbst
yerlegt. Dies entspricht dem Wort Christi, einem
jeden werde es im Gericht so ergehen, wir er sich
selbst im Leben anderen gegeniiber yerhalten habe.
In exemplarischen Figuren erforscht der Kiinstler
den Kontrast von Stolz und Demut, ais sei es, um
Condivis Worte abzuwandeln, jedem Betrachter
aufgegeben, dieses Bild vor Augen iiber sich selbst
zu urteilen.

Der Phaethon-Sturz als Umkehrung des
Himmelfahrtsbildes

Wenn de Tolnay, der durchaus die Interzession der
Gottesmutter bemerkte, dennoch das Gerichtsbild
Michelangelos ais Anyerwandlung des christlichen
Themas an ein mythisch-fatalistisches Strafgericht
yerstand, berief er sich auf die Zeichnungen, die
Michelangelo in halb privater, halb offentlicher Ge-
ste seinem Zeichenschiiler, dem romischen Adligen
Tommaso de’ Cayalieri schenkte. Wohl 1533 ent-
standen die Zeichnungen des Ganymed, des Tityos
und des Phaethon-Sturzes.

Zum Thema des Phaethon-Sturzes sind we-
nigstens drei ais eigenhandige Zeichnungen Mi-
chelangelos gćltende Fassungen bekannt, die im
Detail yoneinander abweichen, aber doch in der
grundsatzlichen Bildidee, worauf es hier ankommt,
iibereinstimmen. Die am meisten ausgearbeitete
in Windsor Castle (Abb. 2) wird iiberwiegend ais
die spateste der Serie angesehen30. Phaethon, Sohn

30 Es sind dies die Zeichnungen London, British Museum,
Inv. 1895-9-15-517, schwarze Kreide, 31,3 X 21,7 cm, vgl.
Ch. de Tolnay, Corpus dei disegni di Michelangelo, 4 Bde.,
Novara 1975—1980, Bd. 2, S. 107f., Nr. 430recto; Venezia,
Gallerie delFAccademia, Inv. 177r, schwarze Kreide, 39,4 X

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