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Polska Akademia Umieje̜tności <Krakau> / Komisja Historii Sztuki [Hrsg.]; Polska Akademia Nauk <Warschau> / Oddział <Krakau> / Komisja Teorii i Historii Sztuki [Hrsg.]
Folia Historiae Artium — NS: 11.2007(2008)

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Boesten-Stengel, Albert: Himmelfahrt und Höllensturz?: Bilderfindung und Typengeschichte in Michelangelos Jüngstem Gericht
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https://doi.org/10.11588/diglit.20622#0041
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des Sonnengottes und der Gattin des athiopischen
Konigs Merops, erbat, den Wagen seines Vaters len-
ken zu diirfen. Im Hohenflug von Furcht ergriffen
yerliert Phaethon die Herrschaft iiber das Gespann,
das seine gewohnte Bahn yerlaBt und die Welt zu
yerbrennen droht. Da zerschmettert Jupiter, um die
Gefahr abzuwenden, mit seinem Blitzstrahl den Wa-
gen. Phaethon stiirzt brennend gleich einem Meteor
von der Hohe des Himmels in den FluB Eridanus. So
im 2. Buch der Metamorphosen des Ovid.

De Tolnay will an der Figur Christi des Jiingsten
Gerichts Michelangelos eben den zerschmetternden
Gestus des blitzschleudernden Jupiters wiederer-
kennen. DaB der Kiinstler die erste Idee fiir das
Gerichtsbild aus seiner Phaethon-Bilderfindung
entwickelt habe, belege die ungewohnlich bewegte
Figur des Weltrichters in der Zeichnung Inv. Nr. 65F
recto der Casa Buonarroti (Abb. 3) in Florenz, die
allgemein ais die friiheste erhaltene Skizze des Bild-
ganzen gilt31. De Tolnay setzt dabei diese bestimmte
Abfolge der Entstehung beider Zeichnungen voraus.
Doch ist keineswegs sicher, wann um 1533 der Auf-
trag fiir das Gerichtsfresko an Michelangelo erging.
Immerhin arbeitete Michelangelo, worauf eine Rei-
he von allerdings kontrovers zugeschriebenen und
datierten Zeichnungen hindeutet, moglicherweise
parallel zu den Cayalieri-Zeichnungen an Entwiirfen
fiir eine dann nie ausgefiihrte Auferstehung Christi, die
gleichermaBen Beriihrungen mit dem Gerichtsthe-
ma aufweisen32. Warum sollten nicht umgekehrt
erste Ideen fiir das Gericht in die Zeichnungen
fiir Tommaso de’Cavalieri eingeflossen sein? Und
schlieBlich: wie „antik” oder „mythisch” ist iiber-
haupt Michelangelos Phaethon-Sturz, daB er am
Anfang einer Mythisierung oder Antikisierung des
Gerichtsthemas gestanden haben konnte?

Die Forschung erkannte schon friih, daB der
Kiinstler antike Beispiele der Phaethon-Ikonogra-
phie aus eigener Anschauung kannte, besonders den
kaiserzeitlichen sogenannten Phaethon-Sarkophag
der Uffizien (Abb. 4) in Florenz, der sich noch um
1500 in Rom bei S. Maria in Aracoeli befand33. In der
Mitte der Sarkophagfront, herausgehoben durch das
auffallige Motiv eines Wagenrades, unterscheiden
wir das Sonnengespann in wilder Auflosung und
den kopfiiber stiirzenden Phaethon. Rechts und

25,5 cm; vgl. de Tolnay, ebda., Bd. 2, S. 108, Nr. 342recto;
Windsor Castle, Royal Library, Inv. 12766r, schwarze Kreide,
41,3 X 23,4 cm; vgl. de Tolnay, ebda., Bd. 2, S. 108f., Nr.
343recto.

31 Florenz, Casa Buonarroti, Inv. 65F recto, schwarze
Kreide, Umrisse zweier Figuren teilweise in Feder mit Braun

links davon drangen sich in raumloser Dichte alle,
die den ungliicklichen Tod des Jiinglings betrau-
ern: Sein Vater Sol-Phoebus, seine Flalbschwestern,
die Tochter Konig Merops’, ferner sein klagender
Freund Cygnus, der sich bereits in einen Schwan
yerwandelt hat, und schlieBlich der quergelagerte
FluBgott Eridanus. Es fehlt der Gottervater, dessen
Mitwirkung ais bekannt yorausgesetzt wird.

Michelangelos Bilderfindung bedeutet zunachst
eine radikale Abkehr von der antiken Darstellungs-
konvention, die darin bestand, die wesentlichen
Motive des Mythos in der Florizontalen anzuordnen
und die Dramatik des zentralen Ereignisses in einer
dekorativen Symmetrie zu neutralisieren. Indem
Michelangelo das Thema zu einer Vertikalkomposi-
tion umbildet, behalt. der stiirzende Phaethon zwar
die Mitte, nun jedoch zwischen Oben und Unten,
zwischen Himmel und Erde. Der zurnende Jupiter
(der im Sarkophagrelief fehlt) wird eingefuhrt, aber
perspektiyisch yerkleinert, um seinen erhabenen
Sitz in der Hohe anzudeuten. Der leere Raum, den
Michelangelo im Vergleich zum horror vacui des
Sarkophagreliefs hinzuerfindet, ist notwendige Be-
dingung der dargestellten Bewegung. GewiB kann
man hier an den leeren Reliefgrund des genannten
Apotheosenreliefs denken. Doch wurde, soweit ich
sehe, das fiir Apotheose-Darstellungen typische ver-
tikale Kompositionsschema in der Antike in keinem
Fali auf den Phaethonsturz angewandt.

In Michelangelos ganz eigener Erfindung er-
scheint das Phaethon-Thema ais eine Art Umkehr
der Apotheose und mehr noch ais eine Umkehr der
hieraus entwickelten akzentuiert yertikalen christ-
lichen Bildtypen. Die Schwestern des Phaethon am
Boden zeigen erregte Gesten, ais wohnten sie einer
Himmełfahrt ex negatwo bei. Bei dem turbulent stiir-
zenden Pferdegespann denke ich an die Umkehrung
einer Entriickung des Propheten Elias. Das Ganze hat
etwas von einer Trayestie, die aber nicht die christ-
lichen Vorbilder yerspottet, sondern das yorliegende
mythologische Thema ins Komische zieht. Bereits
die Fabel des Ovid weckt keine sonderliche Sympa-
thie fiir den unyorsichtigen Jiingling, der durch seine
AnmaBung Himmel und Erde in Gefahr bringt.
Wenn die Phaethon-Zeichnung, wie die Forschung
stets wissen wollte, wirklich ein selbstbeziigliches

iibergangen, 41,4/42 X 29,7 cm, vgl. de Tolnay (wie Anm.
30), Bd. 3, S. 21-23, Nr. 347recto.

32 Siehe die Zusammenstellung bei de Tolnay (wie Anm.
30), Bd. 2, S. 65-71, Nr. 252-265.

33 Vgl. Ch. de Tolnay, Michelangelo, III: The Medici Cha-
pel, Princeton (New Jersey) 1948, S. 112f. und Abb. 294.

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