Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 5.1930

DOI Artikel:
Rundschau
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.13711#0203

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
Es ist sehr nützlich, wenn sich der Architekt mit
Hygiene und Soziologie beschäftigt, aber nur, wenn
er dabei Architekt bleibt, das heißt: die ausglei-
chende Instanz.

Kein Geringerer als der Sozialhygieniker Grotjahn
hat kürzlich ausgesprochen, daß den notwendigen
Ansprüchen an Licht, Luft und Sonne in den neuen
Blöcken der Randbebauung mit weiten Abständen
Genüge geschehen sei, und daß der Hygieniker an
einer Weitertreibung dieser Forderungen heute we-
niger interessiert sei als an manchen anderen For-
derungen, wie der radikalen Durchführung des Flach-
baues mit unmittelbar am Hause gelegenen Aus-
laufflächen für die Kinder.

Gleichgültig, wie man zu dieser Meinung Grot-
jahns steht, so ist sie doch ein Beweis, daß auch
die hygienischen Rücksichten nicht eindeutig klar
und sicher offen liegen. Auch in der Hygiene, wie in
allen biologischen Disziplinen, kommt es — ebenso
wie in der Architektur — auf den Ausgleich mannig-
facher Faktoren an. Wenn der Architekt sich blind-
lings auf die Hygiene stützt, so wird er gezwungen
sein, alle Wandlungen innerhalb der Hygiene — und
diese Wandlungen sind nicht gering — mitzumachen.

Es können nicht alle Fragen, nicht einmal alle
hygienischen Fragen, von der Wohnung aus gelöst
werden. Der Mensch ist beweglich, und seine Be-
weglichkeit erlaubt ihm, sich hygienische Ergänzun-
gen zu verschaffen — im Sport, im Wandern, in der
Gartenpflege, im Spiel, beim Angeln usw. Auch haben
medizinalstatistische Untersuchungen gezeigt, daß
Bewohner von Häusern, die man für sehr viel un-
hygienischer halten müßte, dennoch unter Umstän-
den gesunder sind als die Bewohner von an sich
hygienischeren Häusern, wenn sie in ihrer persön-
lichen Körperkultur, Sauberkeit usw. aufgeklärter
und anspruchsvoller sind.

Für den radikalen Zeilenbau ist Hygiene aus-
schließlich Sonnenlage. Und wiederum Sonnenlage
ist ihm ausschließlich Morgensonne für die Schlaf-
räume, Abendsonne für die Wohnräume. Die Woh-
nung zerfällt so in ein Hüben und Drüben. Hüben nur
dies, drüben nur das, und dieses Auseinanderfallen
in zwei Fächer ist für den ganzen Zeilenbau charak-
teristisch. Glatte Aufteilung wie auf einer Skala,
diesseits vom Nullpunkt und jenseits vom Nullpunkt.
Die Richtung bleibt gleich, nur das Vorzeichen wech-
selt, der Ubergang ist ja ein Nullpunkt.

Die Zeilen laufen von Nord nach Süd. Es gibt nur
ein Rechts vom Wege und ein Links vom Wege. Die
Nullpunkthaftigkeit der Markierung wird stark unter-
strichen durch die blinden Schnittflächen der Giebei
rechts und links vom Wege. Die Gegenbewegung,
die Tiefenerstreckung, scheint für illegitim zu gel-
ten. Die Hauszeilen weichen notgedrungen ein paar
Meter auseinander, und man denkt beim Hindurch-
gehen, daß sie sich gleich hinter einem mit den
nackten Schnittflächen wieder zusammenschließen
werden. ... wie Eisenbahnwaggons schnell ausein-
ander- und schnell wieder zusammengekoppelt
werden.

Auch hier, wie im Ganzen des Dammerstock, sagt
ur>s das Gefühl, daß etwas nicht richtig ist. Denn
auch diese Lösung entbehrt der Totalität. Sie ist
betont „sachlich" ... und in Wirklichkeit, aus Furcht,
formal zu werden, gerade formal und ausgesprochen
unsachlich. Es gibt ja kein gröberes Mißverständnis

als zu meinen, sachlich sei eine Lösung nur, wenn
sie nach dem laufenden Band schmecke und rieche,
billig, lieblos und möglichst mechanisch sei. Jedes
Ding dahin, wohin es gehört. Für Eisenbahnwaggons
ist das laufende Band ausgezeichnet und richtig,
aber die „Sache" Wohnsiedlung ist eine andere. In
ihre Sachlichkeit gehört durchaus, was Martin Wag-
ner jüngst in einem Aufsatze die „neue Herzlichkeit"
nannte und was Schwagenscheidt einmal so for-
mulierte: „Blumen und Bäume, Hecken, Sträucher,
Wiesen, Luft, Sonne und der Sternenhimmel, Wolken,
Vögel und Schmetterlinge und vieles, was in Zahlen
und Diagrammen nicht auszudrücken ist, gehören zur
modernen Sachlichkeit."

Es meldet sich beim Durchschreiten der hohen
Randzeilen in Dammerstock die Erinnerung an die
alten Brandgiebel der Großstädte. Man glaubt fast,
es sei eine Berliner Mietskaserne auseinanderge-
schnitten, Seitenflügel und Quergebäude seien her-
ausgelöst und in die Straßenflucht umgebogen wor-
den. Das soll nichts anderes besagen, als daß auch
hier die Empfindung des „Richtigen" ausbleibt.

Die Methode des Dammerstock ist die diktatori-
sche Methode, die Methode des Entweder-Oder. Dik-
tatur schneidet auseinander, ist unentwegt gerad-
linig, kennt zwei Flügel, aber keine Mitte.

Indem er Leben zum Wohnen spezialistisch ver-
engt, verfehlt dieser Siedlungsbau auch das Wohnen.
Dies ist kein Miteinander, sondern ein Auseinander.
Die ganze Siedlung scheint auf Schienen zu stehen.
Sie kann auf ihrem Meridian um die ganze Erde
fahren, und immer gehen die Bewohner gegen Osten
zu Bett und wohnen gegen Westen.

Es liegt in jeder Sache ein Begriff von Richtig-
keit, der auf die Dauer nicht übersehen werden kann.
Eine Siedlung ohne Bindung ist nicht in Ordnung.
Ist die Ebene nur groß genug, so kann der Zeilen-
bau nach Norden und nach Süden kilometerweit
auseinanderlaufen. Das heißt Menschen im laufen-
den Band verpacken, nicht aber Städtebau.

Die Ausgangspunkte des Zeilenbaues sind ausge-
zeichnet und sollen weiterhin nutzbar gemacht wer-
den. Aber er kann Städtebau nur sein, wenn er ein
Mittel des Städtebaues wird, nicht aber, wenn er
an die Stelle des Städtebaues treten will.

Die diktatorische Methode denkt: Entweder-Oder.
Der Bewohner aber denkt: Und. In Dammerstock
besteht das Auseinander auch im Verhältnis zwi-
schen Architekt und Bewohner. Man braucht nur
die Gardinen hinter den modernen Fenstern zu
sehen, die Gegenstände in den Loggien, um zu
erkennen, daß die Form des Architekten sehr
weit und sehr lose über dem Leben des Bewohners
schwimmt.

Immer wieder dieses auf den entgegengesetzten
Enden zweier Flügel Sich-Gegenüberstehen.

In meinem Büchlein „Neues Wohnen, neues
Bauen" habe ich vor Jahren schon auf die Bedenk-
lichkeit der diktatorischen Methode des modernen
Architekten hingewiesen, und heute muß man dieses
Übel mehr denn je kennzeichnen.

Es ist ganz gewiß richtig, daß die Schuld an dem
Nichtzusammenkommen genau so auf Seiten des
Mieters liegt wie auf der Seite des Architekten. Es
muß auch unterstrichen werden, daß gerade ein
Architekt wie Haesler sich bemüht, den Bewohnern
nahezukommen. Aber die Tatsache bleibt bestehen,

165
 
Annotationen