Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 5.1930

DOI Artikel:
Rundschau
DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.13711#0202

DWork-Logo
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
werde, ist selbst bei einem freien Luxusbau unmög-
lich. Der Architekt wägt alle Ansprüche ab und darf
Verantwortung nicht scheuen, wenn er zu einer Ba-
lance, zu einem Ausgleich kommen will. Wenn der
ihm gelungen ist, verrät sich die Kunst der sicheren
Steuerführung in der allseitigen Bestimmtheit des
Baues, die man am besten als seine „Richtigkeit"
bezeichnet.

Dort aber, wo der Bauende vor der Schwere des
Ausgleichs zurückweicht, wo ihm die Hingabe an ein
Extrem kompromißlos und damit männlicher er-
scheint, kann das Produkt sehr interessant sein,
wird aber für das Empfinden stets einer Ergänzung
zur Totalität bedürfen.

Es darf ganz gewiß als ein enormer Gewinn gegen
früher bezeichnet werden, daß der Architekt nicht
mehr der Formenlieferant für jeden beliebigen Be-
steller ist, sondern sich in die Disziplinen der
Hygiene, des Verkehrswesens, der Volkswirtschaft
und der Soziologie einarbeiten mußte. Aber in man-
chen Fällen war das Ergebnis nicht eine allseitige
Erweiterung des Horizontes, sondern nur eine Inter-
essenverschiebung, eine neue Einseitigkeit. Das Re-
sultat einer solchen ist es, wenn gelegentlich das
ganze vielfältige Tun des Architekten auf eine Karte
gesetzt wird, wenn einer der vielen Faktoren zum
Allheilmittel genommen wird.

Selbstverständlich sind wir heute so wenig wie
früher bereit, wesentliche Lebensansprüche der Be-
wohner irgendeinem Formalismus zu opfern. Wir be-
haupten vielmehr, daß dies gerade von jenen noch
immer getan wird, die vielleicht glauben, solche Ten-
denzen in unserer Kritik abweisen zu müssen. Der
Formalismus liegt freilich heute nicht mehr so offen
im unmittelbar Sichtbaren, als im Geistigen, im Denk-
prozeß, kann sich aber dann auch im Räume nicht
verleugnen.

Wenn es in Dammerstock heißt: es müssen alle
Räume entweder nach Osten oder nach Westen
liegen, so gibt uns die letzte Gewähr für die Wahr-
heit dieses Satzes noch nicht die Berufung auf
diese oder jene hygienische Kapazität, sondern erst
die Prüfung des Gesamtresultates, in diesem Falle
der gebauten Siedlung im Zeilenbau.

Und da sagen wir uns: Dammerstock wäre rich-
tig, wenn unsere Windrose nur Ost und West hätte,
wenn die Sonne zwischen Ost und West auf kür-
zestem Wege hin- und herverkehrte, ohne Nord und
Süd zu berühren. Aber da die Sonne, vom Menschen
aus gesehen, einen Kreis um die Erde beschreibt
und vier Himmelsrichtungen markiert, die unerhört
tief in unser Bewußtsein eingegangen sind, so wirkt
Dammerstock wie ein Torso.

Also soll der Architekt einer kosmischen Spiele-
rei zuliebe Wohnungen und Menschen nach Norden
verbannen?

Er braucht nicht Wohnungen nach Norden zu
legen. Aber muß er den Süden boykottieren? Wenn
er in den Kleinwohnungen von geringer Tiefe die
Wohnräume nach Süden legt, mögen Küche, Bad und
WC getrost nach Norden orientiert sein. Die Beson-
nung von Süden her ist intensiv genug — viel inten-
siver als die von Ost und West —, daß sie auch die
Wirtschaftsräume in diesen kleinen Wohnungen des-
infiziert und gesund erhält.

In Dammerstock sind über der Morgensonne zu
viele andere Faktoren vergessen worden. Sicher-

lich ist es wertvoll, wenn die Morgensonne in das
Schlafstubenfenster hereinkommt . . . aber ist die
frühe Morgenstunde die einzige Gelegenheit, mit der
Sonne in Berührung zu kommen? Wenn die Sonne
ihren guten Tag hat, so scheint sie ja noch einige
weitere Stunden auf dem Weg zur Arbeitsstätte,
zur Schule und aus der Schule, und auch bei der
Gartenarbeit kommen die Familienmitglieder in Be-
rührung mit der Sonne. Denn schließlich ist ja der
Mensch beweglich und wohnt nicht 24 Stunden lang
im Hause.

Der Zeilenbau will möglichst alles von der Woh-
nung her lösen und heilen, sicherlich in ernstem Be-
mühen um den Menschen. Aber faktisch wird der
Mensch gerade hier zum Begriff, zur Figur. Der
Mensch hat zu wohnen und durch das Wohnen ge-
sund zu werden, und die genaue Wohndiät wird ihm
bis ins einzelne vorgeschrieben. Er hat, wenigstens
bei den konsequentesten Architekten, gegen Osten
zu Bett zu gehen, gegen Westen zu essen und Mut-
terns Brief zu beantworten, und die Wohnung wird
so organisiert, daß er es faktisch gar nicht anders
machen kann.

Schließlich ist das Wohnen eine zwar sehr wich-
tige, aber nicht die einzige Funktion unseres Da-
seins. Hier in Dammerstock wird der Mensch zum
abstrakten Wohnwesen, und über allen den so gut
gemeinten Vorschriften der Architekten mag er am
Ende stöhnen: „Hilfe ... ich muß wohnen!".

Es wäre sehr unrecht, zu verkennen, daß gerade
Haesler für das unerhört schwierige Problem der
Kleinwohnung äußerst wertvolle Anregungen gege-
ben hat. Aber es droht hier eine Sackgasse. Die all-
zu spezialisierte Wohnung gewinnt nicht an Wohn-
wert, sondern verliert; Haeslers Wohnung ist über-
haupt nur noch Schlafgelegenheit, denn sein Wohn-
raum wird zum Korridor für die einzelnen Schlaf-
kojen, die ja in einer Arbeiterfamilie zu sehr ver-
schiedenen Tageszeiten benutzt werden können.

Kann man per Diktatur soziologisch sein?

Die Fälle, in denen eine Familie die Räume so be-
nutzt, wie es der Architekt sich gedacht hat, sind
in allen Siedlungen der Welt sehr selten. Nehmen
wir an, daß wirklich in allen Fällen die Vorschläge
des Architekten richtiger waren .... welches Mittel
hat er, seinen Willen durchzusetzen? Keines;
manche freilich glauben, das Mittel gefunden zu
haben, wenn sie die Räume so klein machen, daß
faktisch in ihnen n u r gewohnt, n u r geschlafen,
n u r gekocht werden kann. Aber das ist nur mög-
lich auf Kosten anderer Wohnwerte.

Der Architekt ist heute leicht hygienischer als der
Hygieniker und soziologischer als der Soziologe,
statistischer als der Statistiker und biologischer als
der Biologe. Aber er vergißt zu oft, daß Hygiene,
Statistik, Biologie und Soziologie nur von Wert sind,
wenn sie nicht den Wohnraum auffressen.

„vom biologischen Standpunkt aus benötigt der
gesunde mensch für seine wohnung", so schreibt
Gropius, „in erster linie luft und licht, dagegen nur
eine geringe menge an räum, also ist es unrichtig,
das heil in einer Vergrößerung der räume zu erblik-
ken, vielmehr lautet das gebot: vergrößert die fen-
ster, spart an Wohnraum."

Ist dann nicht die Bank im Tiergarten oder der
Baumstumpf im Grunewald die ideale Wohnung?

164
 
Annotationen