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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 5.1930

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Riezler, Walter: "Völkerkunde"
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https://doi.org/10.11588/diglit.13711#0455

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„VÖLKERKUNDE"

Wir haben den Begriff aus dem 19. Jahrhun-
dert übernommen, und das, was bis vor kurzem
noch fast allgemein als die Aufgabe eines „Mu-
seums für Völkerkunde" galt, entsprach so recht

Schmaler Raum mit landwirtschaftlichen Geräten aus ver-
schiedenen Gebieten Asiens. Durch die Überkreuzungen
der weitausladenden Hölzer der Pflüge wird Platz gespart.
Überschneidungen, unter denen die Klarheit der Einzelformen
nicht leidet. Starke plastische Wirkung vor der weißen Wand

Petite piece contenant des instruments agricoles provenant de
Afferentes regions de l'Asie. L'entrecroisement des longues parties
de bois des charrues permet d'economiser de la place. Ce sont lä
des recoupements dont la nettete des formes particulieres n'a pas
a souffrlr. Puissant effet plastique resultant du placement des
objets devant le fond blanc de la paroi

Narrow room with agricultural implements from various parts of Asia.
^Pace has been saved by allowing the long handles of the ploughs
cross one another, which in no way interferes with the clarity of
t^e individual design. Strong plastic effects against the white walls

dem Geiste des letzten Jahrhunderts. Man
fühlte die Verpflichtung, „Tatsachen" irgend-
einer Art festzustellen und zusammen, einstwei-
len einmal ganz ohne die Absicht, zu werten. Ja,
man scheute sich nicht, auch ein negatives Wert-
urteil sehr deutlich auszusprechen, indem man
die Tatsachen der „Völkerkunde" sehr entschie-
den von dem trennte, was als Denkmal künst-
lerisch-kulturellen Lebens anerkannt wurde,
d. h. im wesentlichen, was dem abendländi-
schen Kulturkreis angehört oder doch zu ihm
in direkte Beziehung gebracht werden konnte.
Daß man die Erzeugnisse der „Exoten" im Zu-
sammenhang mit den Denkmälern der abendlän-
dischen Kultur zeigte, war ausgeschlossen. Eher
gründete man Museen für „Tier- und Völker-
kunde" — nicht, um damit die Einheit des durch
die Natur gehenden Gestaltungstriebes zu doku-
mentieren, sondern um die Kluft zwischen der
Welt der „Naturvölker" (wozu man aber oft auch
die ostasiatischen Hochkulturen zählte) und un-
serer eigenen Kultur möglichst tief erscheinen
zu lassen.

Inzwischen hat sich die Meinung über die
Exoten geändert. Die Wissenschaft sucht die
seltsamen Denkmäler dieser Kulturen in ihrem
Wesen zu ergründen und gelangt dabei zu den
überraschendsten und tiefsten Erkenntnissen
über Urtatsachen der menschlichen Kultur. Die
Künstler fühlen sich zu der Welt der Primitiven
nicht nur hingezogen, sondern gewinnen von da
Anregung zu eigenem Schaffen. Die Primitiven
sind „Mode geworden", — womit aber keines-
wegs gesagt sein soll, daß es sich um ein vor-
übergehendes und oberflächliches Interesse
handelt. Wenn etwas „Mode wird", so liegt mei-
stens etwas sehr Ernsthaftes zugrunde, das nur
von der großen Masse banalisiert wird. Die Über-
zeugung, daß in der Welt der Primitiven nicht nur
unheimliche naturhafte Kräfte, sondern ein ech-
ter Gestaltungstrieb und wahrhaft „künstleri-
sche" Fähigkeiten herrschen, ist eine der
wesentlichen Erkenntnisse der Gegenwart, — tief
schicksalhaft verbunden mit den übrigen Tenden-
zen unseres neu sich bildenden Zeitalters. Wo-
bei wir freilich nicht vergessen sollten, daß be-

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