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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 5.1930

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Rundschau
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https://doi.org/10.11588/diglit.13711#0074

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RUNDSCHAU

DISKUSSIONEN

Lieber Doktor Riezler!

Eben erhalte ich Nr. 23 der „Form", eines der
schönsten Hefte, die die Zeitschrift bis jetzt heraus-
gebracht hat. Aber!----

In dem unbewußten Bestreben, unter allen Um-
ständen die Reinheit der formenden Absicht zu
sichern, werden von den Schöpfern und ihren Mit-
kämpfern begründende Theorien erfunden, hinter
denen das eigentliche Gestaltungsmotiv sich unbe-
rührt von irgendwelchen Bewußtheiten entfalten
kann. So war es bei den Impressionisten, die ganz
etwas anderes gegeben haben, als sie theoretisch
zu geben glaubten, bei den Expressionisten und den
Futuristen. Und in dem Vorgang der architektoni-
schen Stilbildung von heute ist es ganz aus-
gesprochen wieder so. Das ist gut.

Das ändert aber nichts an der Tatsache, daß die
Funktion an sich keine formbildende Kraft besitzt,
sondern höchstens Gestaltungskomponente, ja so-
gar Gestaltungsmaterial sein kann. So betrachtet,
handelt es sich dann aber durchaus nicht um eine
neue Wahrheit.

Wenn ich die Fotografien des neuen Heftes Ihrer
Zeitschrift durchsehe, so bestätigt fast jedes Bild
meine These, daß nämlich künstlerischer Gestal-
tungswille sich hier in einem Maß der technischen
Forderung bemächtigt und sie so umgeprägt hat, wie
man es kaum für möglich halten sollte und wie es
stärker zum Beispiel auch bei den barocken Kriegs-
schiffen des 17. Jahrhunderts nicht gewesen ist.
Mich beglückt diese Erkenntnis, aber der Zweifel, ob
man die Fehlbegründung nicht doch öffentlich be-
kämpfen sollte, peinigt mich. Um deutlicher zu
machen, was ich meine, noch ein paar Beob-
achtungen:

Auf Seite 620 wird die „Bremen" gezeigt. Wenn
Sie von der Weiterentwicklung des Typs der „Satur-
nia" sprechen, so meinen Sie doch sicher nur die
formale Weiterentwicklung. Jedenfalls wird das aus
der Gegenüberstellung ganz klar. Die „Bremen"
sieht viel „schöner" aus, weil es dort gelungen ist,
die Funktionen optisch in klarere horizontale und
»ertikale Rhythmen zu zwingen. Wenn die Schorn-
steine zum Beispiel so kurz und breit gehalten sind
(und jeder weiß, daß man es hier nur mit „dummies"
zu tun hat), so ist die Form durch die Forderung des
vertikalen Gleichgewichts bedingt.

Ähnliche ästhetische Funktionen werden er-
füllt durch die Art der Anbringung der Rettungs-
boote. Die breiten, dunklen Löcher sind unentbehr-
lich für das Gesamtbild. Sie setzen sich zu einem
leicht unterbrochenen dunklen Streifen zusammen,
der aus Schönheitsgründen an diese Stelle gehört.
Auch das Relief, das durch die nach innen liegen-
den Davits entsteht, und das den ganzen Schiffs-
körper nach den Schornsteinen zu oben wieder
plastisch schließt, ist ein ästhetisches Motiv und
nicht allein durch die Funktion bedingt. Denn bei
vielen anderen Schiffen, die technisch ebenso gut
sind, ist diese Beziehung zu dem Künstlerisch-Opti-

schen nicht berücksichtigt. Wenn der Dampfer so-
viel schöner ist als die „Saturnia", so bedeutet das
für mich nichts anderes, als daß wir in Deutschland,
abgesehen vom Technischen, stärkere Formkräfte
besitzen. Und das freut mich. Im übrigen wundert
es mich sehr, daß die radikalen Funktionalisten sich
die Schornsteinattrappen gefallen lassen. Man
käme, wenn ich recht unterrichtet bin, mit ein paar
ziemlich dünnen Rohren aus. aber natürlich, das
würde einen ästhetischen Umbau des ganzen Schif-
fes mit sich bringen. Auf Seite 621, oberes Bild,
ist Gelegenheit gegeben, festzustellen, wie die
zeichnerische Scharfkantigkeit unserer abstrakten
Architektur (oft vom Betonmaterial ausgehend) die
Formbildung der Aufbauten bestimmt, ohne daß uns
nachgewiesen werden könnte, daß diese scharfen
Ecken dem Wesen der Schiffsbewegung, der Wet-
terbeständigkeit oder der Bearbeitung des Materials
wirklich entsprechen. An den Davits auf demselben
Bild läßt sich zeigen, wie bewußt die Nieten der
Krane und die Löcher der Räder ornamental ange-
ordnet sind. Das Gefühl für den Rhythmus, das hier
vom technischen Zeichner bewiesen wird, ist er-
staunlich. Es gehört jedoch in das ästhetische
Reich und nicht ins technische. Ähnliches können
Sie am oberen Bild auf Seite 622 feststellen. Der
Beweis, daß Ventilatoren mit rechteckigem Quer-
schnitt besser oder ebenso gut sind als solche mit
kreisförmigen Querschnitt, muß erst geliefert wer-
den. Sind beide Formen funktionell gleichbefriedi-
gend, so kann die Frage, warum man dann die recht-
eckige Fläche und kantige Form wählt, nur mit einem
„weil es schöner ist" oder „weil es uns besser ge-
fällt" beantwortet werden.

Der Primat der bildenden Kunst und — in der Ge-
samtstilbildung — der Malerei wird auch in diesem
Fall offenbar. Es ist keine Übertreibung, wenn ich
sage, die Form der „Bremen" geht über die abstrak-
ten Bilder Picassos auf Cezanne zurück. Die Tech-
niker werden natürlich lachen, wenn sie das hören,
aber sie lachen zu früh.

Mit freundlichem Gruß ergebenst

Wiehert

Lieber Professor Wiehert!

Daß Ihnen das Heft 23 besonders gut gefällt,
freut uns sehr, und wir hoffen, uns Ihrer Anerkennung
recht oft würdig erweisen zu können. Noch mehr
freut mich aber, was Sie zu dem Formproblem der
„Bremen" zu sagen haben. Sie haben noch schärfer
und entschiedener als ich betont, daß es auch in
der Technik mit der reinen Zweckform nicht getan
ist. Man kann es gar nicht deutlich genug sagen, wie
groß in jedem einzelnen Falle auch bei der streng-
sten technischen Gebundenheit noch der Spielraum
für die Gestaltung ist, wieviel daher von der gestal-
tenden Fähigkeit des Ingenieurs verlangt werden
muß. Und es ist ganz sicher heute schon so, daß
ein sehr feinfühliger Kenner dieser Dinge die ver-

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