BEMERKUNGEN EINES ARCHITEKTEN ZUR MODE
ROGER GINSBURGER, PARIS
Architektur und Mode haben das gemeinsam,
daß sie als Gebiet schon bestanden als die so-
zialen, wissenschaftlichen und technischen Gä-
rungen und Umwälzungen des letzten Jahrhun-
derts einsetzten. Deswegen haben beide eine
Zeitlang vollkommen die Beziehung zum Leben
verloren. Deshalb ist es so schwer für beide,
den Weg zu einer gesunden, unproblematischen,
unliterarischen und unartistischen Arbeitsweise
herüberzufinden. Und doch ist schon ein Schritt
dazu getan.
Mode vor dem Krieg war plötzliches Über-
springen von einer Form zur andern. Die Formen
waren Selbstzweck, der Frauenkörper, seine Be-
wegungen, die verschiedenen Bestimmungen der
Kleidung Nebensache. Das Korsett ist das Sym-
bol jener Zeit. Hier wie in der Architektur steht
das Fieberthermometer der Kultur über 40°. Der
Couturier ist Künstler, Individualist. Das Troca-
dero und die Opera mit ihrem Goldstuck sind
ihm näher als die Galerie des Machines und die
Rennautos.
Nach dem Kriege lebte dieser Geist noch
etwa zwei Jahre weiter. Dann aber setzte
eine Entwicklung ein, die in ihrer Hauptlinie stetig
blieb bis zum vorigen Jahr. Die Sprünge von
einem Extrem zum andern sind einem schrittwei-
sen Abändern gewichen.
Im vorletzten Winter begann das Abendkleid
hinten länger als vorn zu sein. Die Sommerklei-
der blieben dann kurz, aber in den Modeschauen
vom Herbst versuchte man das lange Tageskleid
durchzusetzen. Die Zeitungen veranstalteten
Rundfragen bei allen mondänen, schriftstellern-
den und schauspielernden Damen, ob sie das
lange oder das kurze Kleid lieber mögen. Die
Abendkleider hatten wieder Schleppen und viele
Couturiers ließen auch das Nachmittagskleid bis
zum Boden reichen. Es sah fast so aus, als ob
die Zeit der Formspielerei in der Mode wieder
gekommen sei. Aber, ein Zeichen der Zeit, diese
artistische Revolution der Mode sogar versuchte
Worth in einer Plauderei über seine damaligen
neuen Modelle funktionalistisch zu erklären,
trotzdem das Wort ..Sachlichkeit" noch nicht ein
französisches Schlagwort geworden ist. Er
sagte, die Frau habe während des Krieges im
Handel und in der Industrie die Stelle des Man-
nes einnehmen müssen, und viele hätten ihre Be-
schäftigung nach dem Kriege beibehalten. Des-
wegen sei auch die Frauenmode jahrelang auf
diese arbeitenden Frauen eingestellt gewesen.
Nun, nach zehn Jahren sei das wieder anders
geworden (!) und es sei wieder möglich, auf das
eigentlich Weibliche der Frau Rücksicht zu neh-
men. Ein Kleid allerdings würde immer kurz
bleiben müssen, das sei das Sportkleid.
Schon jetzt kann man die Bilanz dieses Um-
sturzes aufstellen. Es war ein letztes Aufflackern
des Geistes des 19. Jahrhunderts in der Mode
vor dem endgültigen Verglimmen. Das Abend-
kleid ist zwar lang geblieben, es reicht fast bis
zum Boden, hat aber die Schleppe wieder ganz
verloren. Am Sonntag sieht man noch ein paar
Dienstmädchen, die Salle Wagram zum Tanzen
gehen, stolz mit schlecht geschnittenen, hinten
langen Glocken durch die Straßen stelzen. Die
gutgekleideten Mannequins, die reichen DamenT
die man in Auteuil oder um die Madeleine und
auf den Champs-Elysees sieht, tragen das halb-
lange, bis zur Mitte des Unterschenkels rei-
chende Nachmittagskleid oder den Tailleur, der
eher noch kürzer ist. In der Untergrundbahn
sieht man auffallend viele ganz einfache Sport-
mäntel aus gemischtfarbigem Tweed-Wollstoff
mit Leder oder Stoffgürtel über der Hüfte. Die
Trägerinnen dieser Mäntel, die eine Hand breit
unter dem Knie enden, sind kleine Angestellte,
Verkäuferinnen und Arbeiterinnen aus den Mode-
ateliers, kurz Midinettes, die ihr Formgefühl irr.
ständigen Umgang mit der Eleganz der großen
Welt verfeinert haben. In Amerika soll zwar die-
selbe soziale Klasse das lange Kleid rückhaltlos
angenommen haben. Jean Patou hat einem Re-
dakteur des ,,New-York Herald" sein Entsetzen
darüber ausgedrückt, daß jedes Mädchen dort
die Straßen mit ihrem langen Kleide kehrt. Die
langen Kleider seien für den Luxus gemacht, für
große Empfänge, außerordentliche Gelegen-
heiten, aber nicht, um immer getragen zu werden.
Das praktische Kleid solle so bleiben wie es war.
Diese Worte zeigen, daß einer der Schöpfer
der neuen Mode zum Unterschied von anderen
und besonders von den Nachläufern und den.
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ROGER GINSBURGER, PARIS
Architektur und Mode haben das gemeinsam,
daß sie als Gebiet schon bestanden als die so-
zialen, wissenschaftlichen und technischen Gä-
rungen und Umwälzungen des letzten Jahrhun-
derts einsetzten. Deswegen haben beide eine
Zeitlang vollkommen die Beziehung zum Leben
verloren. Deshalb ist es so schwer für beide,
den Weg zu einer gesunden, unproblematischen,
unliterarischen und unartistischen Arbeitsweise
herüberzufinden. Und doch ist schon ein Schritt
dazu getan.
Mode vor dem Krieg war plötzliches Über-
springen von einer Form zur andern. Die Formen
waren Selbstzweck, der Frauenkörper, seine Be-
wegungen, die verschiedenen Bestimmungen der
Kleidung Nebensache. Das Korsett ist das Sym-
bol jener Zeit. Hier wie in der Architektur steht
das Fieberthermometer der Kultur über 40°. Der
Couturier ist Künstler, Individualist. Das Troca-
dero und die Opera mit ihrem Goldstuck sind
ihm näher als die Galerie des Machines und die
Rennautos.
Nach dem Kriege lebte dieser Geist noch
etwa zwei Jahre weiter. Dann aber setzte
eine Entwicklung ein, die in ihrer Hauptlinie stetig
blieb bis zum vorigen Jahr. Die Sprünge von
einem Extrem zum andern sind einem schrittwei-
sen Abändern gewichen.
Im vorletzten Winter begann das Abendkleid
hinten länger als vorn zu sein. Die Sommerklei-
der blieben dann kurz, aber in den Modeschauen
vom Herbst versuchte man das lange Tageskleid
durchzusetzen. Die Zeitungen veranstalteten
Rundfragen bei allen mondänen, schriftstellern-
den und schauspielernden Damen, ob sie das
lange oder das kurze Kleid lieber mögen. Die
Abendkleider hatten wieder Schleppen und viele
Couturiers ließen auch das Nachmittagskleid bis
zum Boden reichen. Es sah fast so aus, als ob
die Zeit der Formspielerei in der Mode wieder
gekommen sei. Aber, ein Zeichen der Zeit, diese
artistische Revolution der Mode sogar versuchte
Worth in einer Plauderei über seine damaligen
neuen Modelle funktionalistisch zu erklären,
trotzdem das Wort ..Sachlichkeit" noch nicht ein
französisches Schlagwort geworden ist. Er
sagte, die Frau habe während des Krieges im
Handel und in der Industrie die Stelle des Man-
nes einnehmen müssen, und viele hätten ihre Be-
schäftigung nach dem Kriege beibehalten. Des-
wegen sei auch die Frauenmode jahrelang auf
diese arbeitenden Frauen eingestellt gewesen.
Nun, nach zehn Jahren sei das wieder anders
geworden (!) und es sei wieder möglich, auf das
eigentlich Weibliche der Frau Rücksicht zu neh-
men. Ein Kleid allerdings würde immer kurz
bleiben müssen, das sei das Sportkleid.
Schon jetzt kann man die Bilanz dieses Um-
sturzes aufstellen. Es war ein letztes Aufflackern
des Geistes des 19. Jahrhunderts in der Mode
vor dem endgültigen Verglimmen. Das Abend-
kleid ist zwar lang geblieben, es reicht fast bis
zum Boden, hat aber die Schleppe wieder ganz
verloren. Am Sonntag sieht man noch ein paar
Dienstmädchen, die Salle Wagram zum Tanzen
gehen, stolz mit schlecht geschnittenen, hinten
langen Glocken durch die Straßen stelzen. Die
gutgekleideten Mannequins, die reichen DamenT
die man in Auteuil oder um die Madeleine und
auf den Champs-Elysees sieht, tragen das halb-
lange, bis zur Mitte des Unterschenkels rei-
chende Nachmittagskleid oder den Tailleur, der
eher noch kürzer ist. In der Untergrundbahn
sieht man auffallend viele ganz einfache Sport-
mäntel aus gemischtfarbigem Tweed-Wollstoff
mit Leder oder Stoffgürtel über der Hüfte. Die
Trägerinnen dieser Mäntel, die eine Hand breit
unter dem Knie enden, sind kleine Angestellte,
Verkäuferinnen und Arbeiterinnen aus den Mode-
ateliers, kurz Midinettes, die ihr Formgefühl irr.
ständigen Umgang mit der Eleganz der großen
Welt verfeinert haben. In Amerika soll zwar die-
selbe soziale Klasse das lange Kleid rückhaltlos
angenommen haben. Jean Patou hat einem Re-
dakteur des ,,New-York Herald" sein Entsetzen
darüber ausgedrückt, daß jedes Mädchen dort
die Straßen mit ihrem langen Kleide kehrt. Die
langen Kleider seien für den Luxus gemacht, für
große Empfänge, außerordentliche Gelegen-
heiten, aber nicht, um immer getragen zu werden.
Das praktische Kleid solle so bleiben wie es war.
Diese Worte zeigen, daß einer der Schöpfer
der neuen Mode zum Unterschied von anderen
und besonders von den Nachläufern und den.
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