„MODERN" ALS HANDELSWARE
LEWIS MUMFORD, NEW YORK
Als ich im Januar 1927 Grand Rapids, das Haupi-
zentrum der Möbelindustrie, besuchte, gab es dort
nur eine einzige moderne Wohnungseinrichtung auf
dem gängigen Markt: es war eine offensichtliche
Anpassung an französische Arbeit. Im Verlauf von
zwei Jahren hat sich, wenigstens an der Oberfläche,
das ganze Bild geändert. Trotz des hartnäckigen
Widerstandes bei Herstellern und Verkäufern ist
man auf fast allen Gebieten des Einrichtungs- und
Dekorationswesens zu Versuchen moderner Form-
gestaltung gekommen.
Die Anregung zu diesem Wechsel ging hauptsäch-
lich von den großen hauptstädtischen Warenhäusern
aus, wie Marshall Field, Macy, Lord and Taylor,
Wanamaker und Loeser. Sie veranstalteten in klei-
nerem oder größerem Umfang Ausstellungen moder-
ner europäischer und amerikanischer Arbeiten, und
die Hersteller und kleineren Händler waren, ob sie
nun wollten oder nicht, gezwungen, sich diesem Zug
anzuschließen. Sogar die Zeitungen und Zeitschrif-
ten für Wohnungskunst, die der Entwicklung eines
heimischen modernen Kunstgewerbes bisher mit
offenkundiger Gleichgültigkeit gegenüberstanden,
können nicht länger als Spötter am Wege stehen,
trotz ihres großen, gutfundierten Interesses am
Verkauf antiker Kunstgegenstände und an der Her-
stellung „authentischer" Reproduktionen, das sie zu
schützen haben.
Welches ist nun die Gesamtwirkung all dieser
Ausstellungen, Neugestaltungen und Ankündigungen?
Es ist noch etwas verfrüht, darüber zu sprechen,
doch kann man wenigstens zeigen, wo die Gefahren
liegen, und die Aufmerksamkeit auf die aussichts-
reichsten Entwicklungen lenken.
In Amerika liegt eines der Hindernisse für moderne
Gestaltung in der Tatsache, daß unsere Fabrikanten
jeden anderen „Zeitstil" („Period"), nur nicht ihren
eigenen, kennen. Sie haben gelernt, arbeitsparende
Maschinen zur Nachahmung der kunstvollsten Hand-
werksentwürfe zu benutzen; doch haben sie keine
Ahnung davon, daß eine Maschine zu anderem
Zweck verwendet werden könnte und sollte. Nun
hat, seit den achtziger Jahren, eine große Reihe von
Architekten und Kunstgewerblern, die mit H. H. Ri-
chardson und Louis Sullivan beginnt, versucht, die
Grundlagen für eine klare Erkenntnis dessen, was
das Wesen des modernen kunstgewerblichen Stils
ausmacht, zu schaffen. Doch ist, abgesehen von
vereinzelten Erfolgen im mittleren Westen, beson-
ders in den Bauwerken von Sullivan, Frank Lloyd
Wright, Irving Pond und Barry Byrne, dieser Versuch,
ein System des zeitgenössischen Stils auszuarbei-
ten, fruchtlos geblieben. Zwischen 1905 und 1910
wurden die Möbelfabrikanten eine Zeitlang von der
sogenannten Kunstgewerbe-Bewegung (Craftsman
movement) beeinflußt. Der Erfolg waren logisch und
zweckmäßig, wenn auch nicht gefällig entworfene
Möbel. Aber diese „Missionsmöbel", wie sie getauft
wurden, waren von schwerfälligen Proportionen und
kannten nur eine Formel für die verschiedensten
Bedürfnisse.
Wären fähige Zeichner in unseren Möbelfabriken
gewesen, und hätten wir einen einzigen Fabrikan-
ten von der Geschmackskultur und der Gewissen-
haftigkeit einer Firma wie Heal in England gehabt,
so hätten diese ihre neuen Entwürfe auf einer festen
und einfachen Grundlage gestaltet; sie hätten die
Bauart leichter gemacht, die vorherrschenden Far-
ben geändert, Handwerksgebräuche, wie das Zu-
sammenfügen mittels Zapfenloch und Zapfen, unzu-
gerichtetes Leder und Raucheiche beseitigt und eine
sorgsamere Anpassung der Formen an die wirt-
schaftlich vorteilhafte Maschinenproduktion ange-
strebt. Unglücklicherweise wurde der „Missionsstil",
obgleich er — in starkem Gegensatz zu der kraft-
losen „Art nouveau"-Bewegung, die sich zur gleichen
Zeit über Europa ausdehnte — unser bestes moder-
nes Mobiliar ungefähr zwanzig Jahre vorausemp-
fand, von dem Snobismus der „stilechten" Entwürfe
(Period designs) verdrängt; und unsere ersten un-
beholfenen modernen Innenräume wurden die Ziel-
scheibe volkstümlichen Witzes und Spottes.
Es gab verschiedene Gründe für diesen Zusam-
menbruch; doch ein Grund wurde kaum bemerkt, und
dieses war der große Fehler des „Missionsmöbels"
vom Standpunkt des Erzeugers aus: es war sehr
gediegen gebaut, und es hielt sich zu gut. „Period"-
Mobiliar hatte den Vorteil des raschen Unbrauchbar-
werdens, das entweder die Folge schlechter, viel
zu sehr auf Leim beruhender Konstruktion war, oder,
bei den feineren Möbeln, dadurch entstand, daß
immer neue Stile und Formen eingeführt wurden.
Die wirtschaftlichen Gründe, die in der modernen
Industrie die Formgebung bedingen und regeln, sind
mit großem Scharfsinn von unserem vielleicht be-
deutendsten Volkswirtschaftler, Mr. Thorstein-Veh-
len, analysiert worden. In einer Reihe von Arbeiten,
die mit „The Theory of Business Enterprise" beginnt,
zeigt er den Zwiespalt zwischen Geschäft und Er-
zeugung, zwischen Händlerschaft und Produktions-
kraft, und den Wunsch, bei sparsamstem Aufwand
an wirtschaftlichen Kräften einen Höchstnutzen her-
auszuholen. Das, was für die moderne Formgebung
am bezeichnendsten ist, die Elemente der Einfach-
heit, Geradlinigkeit, der Materialersparnis, der me-
chanisierten Produktion und der daraus folgenden
Billigkeit, ist gerade entgegengesetzt dem Wunsch
nach Gepränge und finanzieller Protzerei, einer For-
derung, die der Hersteller geschickt benutzt, um den
Umsatz seines Produkts zu steigern.
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LEWIS MUMFORD, NEW YORK
Als ich im Januar 1927 Grand Rapids, das Haupi-
zentrum der Möbelindustrie, besuchte, gab es dort
nur eine einzige moderne Wohnungseinrichtung auf
dem gängigen Markt: es war eine offensichtliche
Anpassung an französische Arbeit. Im Verlauf von
zwei Jahren hat sich, wenigstens an der Oberfläche,
das ganze Bild geändert. Trotz des hartnäckigen
Widerstandes bei Herstellern und Verkäufern ist
man auf fast allen Gebieten des Einrichtungs- und
Dekorationswesens zu Versuchen moderner Form-
gestaltung gekommen.
Die Anregung zu diesem Wechsel ging hauptsäch-
lich von den großen hauptstädtischen Warenhäusern
aus, wie Marshall Field, Macy, Lord and Taylor,
Wanamaker und Loeser. Sie veranstalteten in klei-
nerem oder größerem Umfang Ausstellungen moder-
ner europäischer und amerikanischer Arbeiten, und
die Hersteller und kleineren Händler waren, ob sie
nun wollten oder nicht, gezwungen, sich diesem Zug
anzuschließen. Sogar die Zeitungen und Zeitschrif-
ten für Wohnungskunst, die der Entwicklung eines
heimischen modernen Kunstgewerbes bisher mit
offenkundiger Gleichgültigkeit gegenüberstanden,
können nicht länger als Spötter am Wege stehen,
trotz ihres großen, gutfundierten Interesses am
Verkauf antiker Kunstgegenstände und an der Her-
stellung „authentischer" Reproduktionen, das sie zu
schützen haben.
Welches ist nun die Gesamtwirkung all dieser
Ausstellungen, Neugestaltungen und Ankündigungen?
Es ist noch etwas verfrüht, darüber zu sprechen,
doch kann man wenigstens zeigen, wo die Gefahren
liegen, und die Aufmerksamkeit auf die aussichts-
reichsten Entwicklungen lenken.
In Amerika liegt eines der Hindernisse für moderne
Gestaltung in der Tatsache, daß unsere Fabrikanten
jeden anderen „Zeitstil" („Period"), nur nicht ihren
eigenen, kennen. Sie haben gelernt, arbeitsparende
Maschinen zur Nachahmung der kunstvollsten Hand-
werksentwürfe zu benutzen; doch haben sie keine
Ahnung davon, daß eine Maschine zu anderem
Zweck verwendet werden könnte und sollte. Nun
hat, seit den achtziger Jahren, eine große Reihe von
Architekten und Kunstgewerblern, die mit H. H. Ri-
chardson und Louis Sullivan beginnt, versucht, die
Grundlagen für eine klare Erkenntnis dessen, was
das Wesen des modernen kunstgewerblichen Stils
ausmacht, zu schaffen. Doch ist, abgesehen von
vereinzelten Erfolgen im mittleren Westen, beson-
ders in den Bauwerken von Sullivan, Frank Lloyd
Wright, Irving Pond und Barry Byrne, dieser Versuch,
ein System des zeitgenössischen Stils auszuarbei-
ten, fruchtlos geblieben. Zwischen 1905 und 1910
wurden die Möbelfabrikanten eine Zeitlang von der
sogenannten Kunstgewerbe-Bewegung (Craftsman
movement) beeinflußt. Der Erfolg waren logisch und
zweckmäßig, wenn auch nicht gefällig entworfene
Möbel. Aber diese „Missionsmöbel", wie sie getauft
wurden, waren von schwerfälligen Proportionen und
kannten nur eine Formel für die verschiedensten
Bedürfnisse.
Wären fähige Zeichner in unseren Möbelfabriken
gewesen, und hätten wir einen einzigen Fabrikan-
ten von der Geschmackskultur und der Gewissen-
haftigkeit einer Firma wie Heal in England gehabt,
so hätten diese ihre neuen Entwürfe auf einer festen
und einfachen Grundlage gestaltet; sie hätten die
Bauart leichter gemacht, die vorherrschenden Far-
ben geändert, Handwerksgebräuche, wie das Zu-
sammenfügen mittels Zapfenloch und Zapfen, unzu-
gerichtetes Leder und Raucheiche beseitigt und eine
sorgsamere Anpassung der Formen an die wirt-
schaftlich vorteilhafte Maschinenproduktion ange-
strebt. Unglücklicherweise wurde der „Missionsstil",
obgleich er — in starkem Gegensatz zu der kraft-
losen „Art nouveau"-Bewegung, die sich zur gleichen
Zeit über Europa ausdehnte — unser bestes moder-
nes Mobiliar ungefähr zwanzig Jahre vorausemp-
fand, von dem Snobismus der „stilechten" Entwürfe
(Period designs) verdrängt; und unsere ersten un-
beholfenen modernen Innenräume wurden die Ziel-
scheibe volkstümlichen Witzes und Spottes.
Es gab verschiedene Gründe für diesen Zusam-
menbruch; doch ein Grund wurde kaum bemerkt, und
dieses war der große Fehler des „Missionsmöbels"
vom Standpunkt des Erzeugers aus: es war sehr
gediegen gebaut, und es hielt sich zu gut. „Period"-
Mobiliar hatte den Vorteil des raschen Unbrauchbar-
werdens, das entweder die Folge schlechter, viel
zu sehr auf Leim beruhender Konstruktion war, oder,
bei den feineren Möbeln, dadurch entstand, daß
immer neue Stile und Formen eingeführt wurden.
Die wirtschaftlichen Gründe, die in der modernen
Industrie die Formgebung bedingen und regeln, sind
mit großem Scharfsinn von unserem vielleicht be-
deutendsten Volkswirtschaftler, Mr. Thorstein-Veh-
len, analysiert worden. In einer Reihe von Arbeiten,
die mit „The Theory of Business Enterprise" beginnt,
zeigt er den Zwiespalt zwischen Geschäft und Er-
zeugung, zwischen Händlerschaft und Produktions-
kraft, und den Wunsch, bei sparsamstem Aufwand
an wirtschaftlichen Kräften einen Höchstnutzen her-
auszuholen. Das, was für die moderne Formgebung
am bezeichnendsten ist, die Elemente der Einfach-
heit, Geradlinigkeit, der Materialersparnis, der me-
chanisierten Produktion und der daraus folgenden
Billigkeit, ist gerade entgegengesetzt dem Wunsch
nach Gepränge und finanzieller Protzerei, einer For-
derung, die der Hersteller geschickt benutzt, um den
Umsatz seines Produkts zu steigern.
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