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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 5.1930

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Schwab-Felisch, Hildegard: Das Waisenhaus: Bau, Raum und Tracht
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https://doi.org/10.11588/diglit.13711#0020

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DAS WAISENHAUS: BAU, RAUM UND TRACHT

HILDEGARD S C H WA B-FELISCH

Ganz bestimmte Schulvorstellungen verbinden
sich mit dem Wort Waisenhaus: öder Backstein-
bau, düstere lange Korridore. Kinder mit ebenso
grauen Kleidern wie Gesichtern, Marschkolonnen,
deren wurmartige Linie offenbar die Fortsetzung der
Gänge im Innern des Hauses bildete. Ein unabänder-
liches Fatum schien die scheuen und wohlgeord-
neten Gestalten der Waisenhäuser zu beschatten,
und mitleidiges Achselzucken begleitet die Erinne-
rung an ihr Erscheinen. Beim Sammeln dieser und
ähnlicher Eindrücke geschieht aber etwas Merkwür-
diges. Unwillkürlich gleitet die Vorstellung in die
Vergangenheit ab, sie heftet sich an Kindheitsbilder
und findet sie bestätigt — durch Literatur. Nur
selten, in kleineren alten Städtchen, geht noch heute
das Gespenst des Waisenhauses — so wie es be-
schrieben wurde — gelegentlich um, da, wo moder-
nes Leben flutet, ist es im Verschwinden. Der Ein-
bruch der neuen Zeit läßt auch die pädagogische
Provinz nicht unberührt: und da wenig Einrichtungen
der Gegenwart so veraltet sind wie das Waisenhaus,
ist auch der Erneuerungsprozeß nirgends so radikal
wie hier. Die Entwicklung von gestern auf heute und
morgen zu verstehen, dürfte aber beim Waisenhaus
nur dann möglich sein, wenn bereits das Gestern
als historisches Gebilde begriffen wird.

Ihren Ursprung verdanken die Waisenhäuser der
christlichen Kirche. Mehrere Stellen des Neuen
Testaments lassen Witwen und Waisen gerade we-
gen ihrer Hilfsbedürftigkeit als besonders gottnah
erscheinen und empfehlen sie deshalb der Fürsorge
der Gläubigen. Im Mittelalter entstanden daher
unter dem Einfluß der Lehre vom Gnadenschatz der
Kirche Waisenhäuser in großer Zahl, oft, ja mei-
stens angelehnt an Spitäler, Klöster, Findlingshäu-
ser oder Zufluchtsheime: fromme Stiftungen in un-
zureichenden, unhygienischen und völlig unkindlichen
Häusern, weniger zum Aufwachsen der Kinder ge-
eignet als zur Befriedigung des Bürgers, der durch
seine Wohltaten ein Anrecht auf den Gnadenschatz
der Kirche erwarb. Als Ausdruck der Gotteskind-
schaft aber trugen die Kinder selber eine dunkle,
hochgeschlossene Tracht. Nur hier und da an beson-
deren Festen durch gleiche Kränze belebt, die die
Häupter der „Mägdlein" schmückten, wenn sie im
Zuge durch die Straßen zur Kirche geführt wurden.

Mit merkwürdiger Zähigkeit hält das Unterbewußt-
sein des Volkes diese eigentliche Bedeutung der
Waisentracht fest, auch nachdem längst ihr Sinn
vergessen ist*. Man kann das nicht nur an einzelnen
Äußerungen und Zeitungskommentaren verfolgen,
sondern auch an solchen Erscheinungen wie der der
Kurrendeschüler. Denn ebenso wie die Gaben a n
die Waisenkinder, so hatten entsprechend auch die
Gebete der Waisenkinder selber besondere Kraft.
Man sicherte sich daher durch Stiftungen die Ge-
sänge und Gebete der Waisenkinder an Todestagen,
Namenstagen und Festlichkeiten. Dieser Chor der
reinen Kinder, deren unbefleckte Seele durch die
weitabgewandte schwarze Tracht symbolisiert
wurde, ist noch heute in manchen Gegenden als

* Vergleiche eine demnächst erscheinende Arbeit von G. Krug in
„Waisenhilfe".

Kurrende erhalten. Daß der Sinn im Laufe der Jahr-
hunderte verblaßte und an Stelle der Fürbitte durch
Gotteskinder bezahlte Dienste von Armenkindern
traten, die sich auf diese Weise ein kleines Spar-
kassenkonto anlegen konnten, entspricht der allge-
meinen Verflachung des religiösen Bewußtseins. Der
Zusammenhang zwischen alter und neuer Zeit ist
jedenfalls durch die Tracht verräterisch gewahrt.
Aber auch das ist interessant, daß sich heute die
Kurrende nur an religiös orientierten Anstalten er-
halten hat.

Eine andere, den Charakter der Waisenhäuser be-
stimmende Auswirkung des religiösen Gedanken-
kreises war die Zusammenwürfelung der Waisen mit
Hilfsbedürftigen aller Art: Verwahrlosten, Kranken,
Alten, Irren usw. Es entstanden also jene berüch-
tigten Häuser, die alle Sorten abhängiger Menschen
aufnahmen und wahllos durcheinander brachten.
Dieser unheilvolle Prozeß, von der Kirche abgelei-
tet aus der Barmherzigkeit und offenen Tür für alle
Geschöpfe Gottes, wurde verstärkt und bekam ein
gefährliches Gepräge, als der absolutistische Staat
aus politischen und wirtschaftlichen Gründen auch
die Anstalten zentralisierte und nun Verbrecher und
Gesindel gemeinsam mit hilfsbedürftigen Kindern
verwahrte. Aus den mehr oder weniger naiven Grün-
dungen des Mittelalters wurden jetzt die „Zucht-
und Waisenhäuser", in denen sich dunkelste Ele-
mente mit den zahlreichen, durch die ewigen Kriege
verlassenen und verkommenen Kindern zusammen-
fanden und gemeinsam in das merkantilistische Er-
werbssystem eingespannt wurden. Die Fabrik hielt
ihren Einzug in die Waisenhäuser, in großen Sälen
fanden sich die verschiedenartigen Bewohner, um
Baumwolle zu spinnen, Tuch zu weben, Uhren zu
machen, Körbe zu flechten oder Bürsten zu binden.
Gleichzeitig veränderte sich entsprechend der Bau
der Waisenhäuser. Hatten früher Fachwerkbauten
genügt, um den Kindern ein Obdach und auch eine
kleine Schulstube zu geben, so wurden jetzt mas-
sive Gebäude aufgeführt, in denen Platz genug war,
um mehrere hundert Personen zu beherbergen, Web-
stühle aufzustellen und Material zu lagern. Man
denke, daß beispielshalber das „Zucht- und Waisen-
haus Pforzheim" eine Färberei, eine Zeugmacherei,
eine Strumpfweberei und eine Tuchmacherei ent-
hielt. Außer den Zuchthäuslern, den Waisenkindern,
den Kranken, Gebrechlichen, Witwen, Landstrei-
chern und Dirnen hatte es aber auch „Kinder zur
Erlernung und Übung des Christentums wie auch der
übrigen Wissenschaften ... gegen entsprechendes
Lehrgeld untergebracht". Man sieht: grandiose Mas-
sengebäude waren nötig mit vielerlei Raum verschie-
denartigster Bestimmung: Schöpfungen einer zen-
tralistisch-absolutistischen, produktionsfanatischen,
unbarmherzigen Zeit. Infolge der scharfen Angriffe,
denen diese Art „Erziehung" ausgesetzt war, wur-
den nach und nach derartige Anstalten aufgehoben.
Wo sie sich erhielten, wurden Um- und Neubauten
vorgenommen, Sieche oder Irre in besondere Flügel
gelegt, Erwerbsunternehmungen angegliedert statt
einbezogen. Als Uberrest blieb vielfach nur die alte
Tracht, blaues Tuch mit gelben Knöpfen als Reklame

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