Waisenkind gegenüber bedeutet ungeheuer viel. Sie
verlangt von sich selbst Methoden, die das berüch-
tigte Minderwertigkeitsgefühl des Waisenkindes zer-
stören, die ihm darüber hinaus eine positive, stolze
Haltung geben, die es befähigen, nach dem Hinaus-
wachsen über die Anstalt ein Leben draußen unter
fremden Menschen anzufangen und durchzuführen
und eine Familie zu gründen, obwohl es selber
keine gekannt hat. Im Kampf um die Selbstbehaup-
tung muß das Waisenhaus dem jungen Menschen
draußen ein Rückhalt bleiben, es muß der Boden
sein, aus dem er seine Kraft zieht.
Entsprechend dieser eigenartigen Aufgabe wählen
denn auch die modernen Waisenanstalten neue
Methoden in der Unterbringung und Erziehung der
Kinder: alles, was angetan scheint, um das Selbst-
gefühl zu heben, wird beobachtet: individuelle Klei-
dung, leichtes Schuhwerk anstatt der alten Nagel-
schuhe, persönlicher Haarschnitt, beste Ausbildung,
Eigentum an Sachen und Schlüssel zu eigenen
Schränken — um bei einzelnem anzufangen. Grup-
penbildung, die mancherorts schon heute nicht mehr
als „Familie", sondern als das, was sie ist. ..Ge-
meinschaft" oder „Kameradschaft" aufgefaßt wird
und zu einer neuen Aufteilung der Innenräume führt.
Selbstverständlich Abschaffung aller Strafzellen.
Strafbänke und ähnlicher Residuen aus merkantili-
stischer Zeit; vor allem aber: Schlafzimmer mit drei
bis vier Betten für die jüngeren Schulkinder, Einzel-
zimmer für die älteren. Umgestaltung der Wohn-
räume: Stühle anstatt der Bänke, Einzeltische, Ni-
schen, Porzellangeschirr an Stelle der Emaille-
töpfe des 19. und Zinnschüsseln des 18. Jahrhun-
derts (die übrigens in manchen Anstalten noch exi-
stieren, von Zeit zu Zeit umgegossen und immer
noch benutzt werden), persönliche Einrichtungs-
gegenstände der Kinder selbst, Musikinstrumente,
Aquarien, Kleintier, Spiel- und Lesezimmer für die
größeren und vor allem Sportplätze und Festräume,
wo sich die Geschlechter begegnen. Lehrlingsheime
für die Schulentlassenen, Gastzimmer für die Be-
sucher. Haus, Raum und Tracht des Waisenhauses
werden frisch gelüftet, die Tore sind offen, zwischen
„draußen" und ..drinnen" geht es ständig hin und
her. Die Anschlußmöglichkeit an öffentliche Schu-
len, die Wettkämpfe mit den Sportklubs der Stadt,
die Notwendigkeit, gerade dem Waisenkind eine
Sicherheit im Verkehr mit Menschen zu geben, ver-
langen örtliche Nähe zu den städtischen Einrichtun-
gen, die vielfach schon dadurch erreicht ist, daß die
Stade selber wuchs und auch das draußen gelegene
Waisenhaus jetzt umschlossen hat. Was die Atmo-
sphäre der Räume anlangt, so könnte das deutsche
Waisenhaus, auch das moderne, noch viel von Eng-
land lernen: von der Raumaufteilung dort, der Art,
wie die Wände durch ein Paneel geschützt sind, wie
die bequemen Stühle in den Zimmern verteilt sind,
und wie die Kinder ihr eigenes Besitztum unter-
bringen. Bei aller Klarheit und Sauberkeit ist doch
dort, schon durch das Vermeiden greller Farben,
eine größere Sicherheit zu spüren, die auch wieder
eine andere Wärme ausstrahlt. Und schließlich, was
die moderne Tracht in Waisenhäusern anlangt: Pots-
damer Schüler bestehen auch heute noch, obwohl
ihnen erlaubt ist. eigene Kleidung zu tragen, teil-
weise auf ihrer Tracht: sie verbinden ein Gefühl des
Stolzes damit. Und viele Anstalten gibt es, wo die
Kinder freiwillig bei Wanderungen selbstgewählte
neue Tracht tragen, pfadfindermäßig oder wander-
vogelartig: wo aus dem individuellen „Verstörungs-
erlebnis" ein Gemeinschaftsgeist gewachsen ist.
Darüber hinaus liegen neue Projekte vor: Ham-
burg plant in Wulsdorf ein ganzes „Kinderdorf" zu
erbauen, wo Tausende hilfsbedürftiger Kinder aller
Gattungen angesiedelt werden sollen — ein Ge-
danke, der manche Gefahren in sich birgt und an
die merkantilistische Zeit der Zentralisierung erin-
nert — aber jedenfalls ein Experiment, das wert ist,
genau verfolgt zu werden. Charakteristisch für
manche Strömungen der Gegenwart mit ihrer Nei-
gung zur Verabsolutierung des Kindes, uncharak-
teristisch hoffentlich für die „Neue Zeit", die einen
planvollen Einbau des Kindes in das Leben fordert
und eine Abseitserziehung ablehnt.
DAS GESICHT EINER VOLKSHOCHSCHULE
Plan zur BUhnenanlage für die Volkshochschule Jena aus dem Jahre 1926
Von Dr. Walter Dexel
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verlangt von sich selbst Methoden, die das berüch-
tigte Minderwertigkeitsgefühl des Waisenkindes zer-
stören, die ihm darüber hinaus eine positive, stolze
Haltung geben, die es befähigen, nach dem Hinaus-
wachsen über die Anstalt ein Leben draußen unter
fremden Menschen anzufangen und durchzuführen
und eine Familie zu gründen, obwohl es selber
keine gekannt hat. Im Kampf um die Selbstbehaup-
tung muß das Waisenhaus dem jungen Menschen
draußen ein Rückhalt bleiben, es muß der Boden
sein, aus dem er seine Kraft zieht.
Entsprechend dieser eigenartigen Aufgabe wählen
denn auch die modernen Waisenanstalten neue
Methoden in der Unterbringung und Erziehung der
Kinder: alles, was angetan scheint, um das Selbst-
gefühl zu heben, wird beobachtet: individuelle Klei-
dung, leichtes Schuhwerk anstatt der alten Nagel-
schuhe, persönlicher Haarschnitt, beste Ausbildung,
Eigentum an Sachen und Schlüssel zu eigenen
Schränken — um bei einzelnem anzufangen. Grup-
penbildung, die mancherorts schon heute nicht mehr
als „Familie", sondern als das, was sie ist. ..Ge-
meinschaft" oder „Kameradschaft" aufgefaßt wird
und zu einer neuen Aufteilung der Innenräume führt.
Selbstverständlich Abschaffung aller Strafzellen.
Strafbänke und ähnlicher Residuen aus merkantili-
stischer Zeit; vor allem aber: Schlafzimmer mit drei
bis vier Betten für die jüngeren Schulkinder, Einzel-
zimmer für die älteren. Umgestaltung der Wohn-
räume: Stühle anstatt der Bänke, Einzeltische, Ni-
schen, Porzellangeschirr an Stelle der Emaille-
töpfe des 19. und Zinnschüsseln des 18. Jahrhun-
derts (die übrigens in manchen Anstalten noch exi-
stieren, von Zeit zu Zeit umgegossen und immer
noch benutzt werden), persönliche Einrichtungs-
gegenstände der Kinder selbst, Musikinstrumente,
Aquarien, Kleintier, Spiel- und Lesezimmer für die
größeren und vor allem Sportplätze und Festräume,
wo sich die Geschlechter begegnen. Lehrlingsheime
für die Schulentlassenen, Gastzimmer für die Be-
sucher. Haus, Raum und Tracht des Waisenhauses
werden frisch gelüftet, die Tore sind offen, zwischen
„draußen" und ..drinnen" geht es ständig hin und
her. Die Anschlußmöglichkeit an öffentliche Schu-
len, die Wettkämpfe mit den Sportklubs der Stadt,
die Notwendigkeit, gerade dem Waisenkind eine
Sicherheit im Verkehr mit Menschen zu geben, ver-
langen örtliche Nähe zu den städtischen Einrichtun-
gen, die vielfach schon dadurch erreicht ist, daß die
Stade selber wuchs und auch das draußen gelegene
Waisenhaus jetzt umschlossen hat. Was die Atmo-
sphäre der Räume anlangt, so könnte das deutsche
Waisenhaus, auch das moderne, noch viel von Eng-
land lernen: von der Raumaufteilung dort, der Art,
wie die Wände durch ein Paneel geschützt sind, wie
die bequemen Stühle in den Zimmern verteilt sind,
und wie die Kinder ihr eigenes Besitztum unter-
bringen. Bei aller Klarheit und Sauberkeit ist doch
dort, schon durch das Vermeiden greller Farben,
eine größere Sicherheit zu spüren, die auch wieder
eine andere Wärme ausstrahlt. Und schließlich, was
die moderne Tracht in Waisenhäusern anlangt: Pots-
damer Schüler bestehen auch heute noch, obwohl
ihnen erlaubt ist. eigene Kleidung zu tragen, teil-
weise auf ihrer Tracht: sie verbinden ein Gefühl des
Stolzes damit. Und viele Anstalten gibt es, wo die
Kinder freiwillig bei Wanderungen selbstgewählte
neue Tracht tragen, pfadfindermäßig oder wander-
vogelartig: wo aus dem individuellen „Verstörungs-
erlebnis" ein Gemeinschaftsgeist gewachsen ist.
Darüber hinaus liegen neue Projekte vor: Ham-
burg plant in Wulsdorf ein ganzes „Kinderdorf" zu
erbauen, wo Tausende hilfsbedürftiger Kinder aller
Gattungen angesiedelt werden sollen — ein Ge-
danke, der manche Gefahren in sich birgt und an
die merkantilistische Zeit der Zentralisierung erin-
nert — aber jedenfalls ein Experiment, das wert ist,
genau verfolgt zu werden. Charakteristisch für
manche Strömungen der Gegenwart mit ihrer Nei-
gung zur Verabsolutierung des Kindes, uncharak-
teristisch hoffentlich für die „Neue Zeit", die einen
planvollen Einbau des Kindes in das Leben fordert
und eine Abseitserziehung ablehnt.
DAS GESICHT EINER VOLKSHOCHSCHULE
Plan zur BUhnenanlage für die Volkshochschule Jena aus dem Jahre 1926
Von Dr. Walter Dexel
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