Die Kunstgewerbeschule in Wien bildet ihre be-
gabten Schüler nicht dazu aus, daß sie alle von
Fabriken und Massenunternehmen aufgesaugt wer-
den. Sie entwickelt Persönlichkeiten, denen sie Vor-
aussetzungen gibt, auf eigenen Füßen zu stehen und
selbständig zu arbeiten, allen Schwierigkeiten zum
Trotz, die das Leben in Österreich noch immer mehr
als anderswo bietet. Mag sein, daß die individuelle
Arbeit von vielen als eine unzeitgemäße Produktions-
form angesehen wird. Dennoch gibt sie Lebensmut
und Lebensmöglichkeit den vielen, die im Massen-
betrieb der Großindustrie keine Verwendung finden
konnten.
Das Kunstgewerbe Österreichs ist wie seine Mu-
sik, zwar national betont, doch auch fremden Völ-
kern verständlich. In allem, was im Schatten des
Stephansturmes das Tageslicht erblickt hat, fühlt
man den Hauch alleuropäischer Universalität. Für
uns Schweden hat das österreichische Wesen mit
seinem Gegensatz, nein, seinem Zusammenklang von
Süd und Nord, von Fremdem und uns Stammverwand-
tem, seinen eigenen Zauber. Daraus strahlt uns jene
Innigkeit und Wärme entgegen, die uns zu Herzen
geht, und zugleich jene leichte Anmut, jene spiele-
rische Musikalität, die uns unser eigenes schwer-
mütiges Wesen überwinden hilft.
Kopf
Email. Herta Mahler-Jirasko
ZUR AUFLÖSUNG DER STAATLICHEN BAUHOCHSCHULE IN WEIMAR
JUSTUS BIER
Wenn wir mit diesem Aufsatz dieser Anstalt einen Nachruf bringen, so dürfen wir es nicht unterlassen,
mit allem Nachdruck festzustellen, daß das Kultusministerium in Weimar nicht nur aus parteipolitischen
Gesichtspunkten, sondern auch aus seltener Unkenntnis der Aufgaben einer solchen Schule eine Maßnahme
getroffen hat, die wir gemeinsam mit allen denen verurteilen, denen, ganz abgesehen von ihrer Parteiein-
stellung, der kulturelle Fortschritt am Herzen liegt. Besonders bedauern wir es, daß den jungen Lehrern,
die mit ihren Werkstätten wertvolle Arbeit für die Gestaltung der Typenware geleistet haben, plötzlich
die Möglichkeit, diese Arbeit fortzusetzen, genommen wurde. Die Schriftleitung
Was man seit Monaten kommen sah, ist nun ein-
getreten: Am 1. April hat der nationalsozialistische
Kultusminister Dr. Frick die Bauhochschule Weimar
aufgelöst und sämtlichen Lehrern wie auch allen
Angestellten gekündigt.
Diese Maßnahme zusammen mit der Berufung des
heute gänzlich abseits stehenden, von Ressenti-
ments bestimmten Schultze-Naumburg zwecks Grün-
dung einer neuen Anstalt beweist, daß die Regie-
rung bewußt die politische Kursänderung mit der
geistigen Reaktion verknüpft. Die Folgen solcher
Einstellung sind nicht abzusehen; konsequent müß-
ten bei jedem Regierungswechsel alle Kulturinsti-
tute aufgelöst und neu besetzt werden. Das ruhige
Ausreifen der von der Dialektik politischer Entwick-
lungen grundsätzlich verschiedenen künstlerischen
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gabten Schüler nicht dazu aus, daß sie alle von
Fabriken und Massenunternehmen aufgesaugt wer-
den. Sie entwickelt Persönlichkeiten, denen sie Vor-
aussetzungen gibt, auf eigenen Füßen zu stehen und
selbständig zu arbeiten, allen Schwierigkeiten zum
Trotz, die das Leben in Österreich noch immer mehr
als anderswo bietet. Mag sein, daß die individuelle
Arbeit von vielen als eine unzeitgemäße Produktions-
form angesehen wird. Dennoch gibt sie Lebensmut
und Lebensmöglichkeit den vielen, die im Massen-
betrieb der Großindustrie keine Verwendung finden
konnten.
Das Kunstgewerbe Österreichs ist wie seine Mu-
sik, zwar national betont, doch auch fremden Völ-
kern verständlich. In allem, was im Schatten des
Stephansturmes das Tageslicht erblickt hat, fühlt
man den Hauch alleuropäischer Universalität. Für
uns Schweden hat das österreichische Wesen mit
seinem Gegensatz, nein, seinem Zusammenklang von
Süd und Nord, von Fremdem und uns Stammverwand-
tem, seinen eigenen Zauber. Daraus strahlt uns jene
Innigkeit und Wärme entgegen, die uns zu Herzen
geht, und zugleich jene leichte Anmut, jene spiele-
rische Musikalität, die uns unser eigenes schwer-
mütiges Wesen überwinden hilft.
Kopf
Email. Herta Mahler-Jirasko
ZUR AUFLÖSUNG DER STAATLICHEN BAUHOCHSCHULE IN WEIMAR
JUSTUS BIER
Wenn wir mit diesem Aufsatz dieser Anstalt einen Nachruf bringen, so dürfen wir es nicht unterlassen,
mit allem Nachdruck festzustellen, daß das Kultusministerium in Weimar nicht nur aus parteipolitischen
Gesichtspunkten, sondern auch aus seltener Unkenntnis der Aufgaben einer solchen Schule eine Maßnahme
getroffen hat, die wir gemeinsam mit allen denen verurteilen, denen, ganz abgesehen von ihrer Parteiein-
stellung, der kulturelle Fortschritt am Herzen liegt. Besonders bedauern wir es, daß den jungen Lehrern,
die mit ihren Werkstätten wertvolle Arbeit für die Gestaltung der Typenware geleistet haben, plötzlich
die Möglichkeit, diese Arbeit fortzusetzen, genommen wurde. Die Schriftleitung
Was man seit Monaten kommen sah, ist nun ein-
getreten: Am 1. April hat der nationalsozialistische
Kultusminister Dr. Frick die Bauhochschule Weimar
aufgelöst und sämtlichen Lehrern wie auch allen
Angestellten gekündigt.
Diese Maßnahme zusammen mit der Berufung des
heute gänzlich abseits stehenden, von Ressenti-
ments bestimmten Schultze-Naumburg zwecks Grün-
dung einer neuen Anstalt beweist, daß die Regie-
rung bewußt die politische Kursänderung mit der
geistigen Reaktion verknüpft. Die Folgen solcher
Einstellung sind nicht abzusehen; konsequent müß-
ten bei jedem Regierungswechsel alle Kulturinsti-
tute aufgelöst und neu besetzt werden. Das ruhige
Ausreifen der von der Dialektik politischer Entwick-
lungen grundsätzlich verschiedenen künstlerischen
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