PÄDAGOGISCHE FRAGMENTE EINER FORMENLEHRE
Aus dem Unterricht der Ittenschule
JOHANNES ITTE N
Die in diesem Aufsatz publizierten Arbeiten
sind Resultate meines Unterrichts während der
drei letzten Jahre. (Die farbig malerischen Ver-
suche sind dabei nicht berücksichtigt.) Ich be-
gann diesen Unterricht 1916 in Wien. Von 1919
bis 1921 arbeitete ich daran weiter am Bauhaus
in Weimar, zu dessen pädagogischer Grundlage
er wurde. Die erste große Bauhausausstellung
1923 gab der Öffentlichkeit davon Kenntnis.
Das Studium der Materien wurde nach meinem
Weggang durch Prof. Moholy-Nagy und meinen
Schüler Prof. Albers fortgeführt und in gewis-
sem Sinne erweitert. Aber die programmatischen
Tendenzen des Bauhauses verhinderten das or-
ganische Entwickeln der breit angelegten Unter-
richtsweise.
Von allem Anfang an war mein Unterricht auf
kein besonders fixiertes äußeres Ziel eingestellt.
Der Mensch selbst als ein aufzubauendes, ent-
wicklungsfähiges Wesen schien mir Aufgabe
meiner pädagogischen Bemühungen. Sinnesent-
wicklung, Steigerung der Denkfähigkeit und des
seelischen Erlebens, Lockerung und Durchbil-
dung der körperlichen Organe und Funktionen
sind die Mittel und Wege für den erzieherisch
verantwortungsbewußten Lehrer. Phrenologi-
sche, physiognomische, physiologische und psy-
chologische Kenntnisse gestatten ihm tiefere
Einsicht in das Wissen um die Möglichkeiten.
Anlagen, Denkweisen, Empfindungsarten und
schöpferischen Kräfte der Lernenden. Jeder
Lernende ist ein Erziehungsproblem für sich!
Seine Arbeit wird wertvoll in dem Maße, wie sie
individuell, einmalig ursprünglich getan wird. Die
allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Form- und
Farbenwelten zu übermitteln und die schöpfe-
rische Ausdruckskraft des Lernenden zu stei-
gern, ist Zweck aller Erziehungskunst für bil-
dende Künstler.
Ich wage zu behaupten, daß die hier in einigen
Beispielen erläuterte Formenlehre die Grundlage
einer allgemein gültigen Einführung in alle Ge-
biete der Bildenden Kunst enthält. Im Rahmen
dieses kleinen Aufsatzes mögen aber Lücken
und Undeutlichkeiten verziehen sein.
Wie ich das Wesen der Relativität aller
Sinnestätigkeit acht- bis zwölfjährigen Kin-
dern am Beispiele der Proportion erklärte.
Aufgabe: Die Kinder legen ihre Hand auf
den Zeichenbogen und zeichnen sie nach, indem
sie mit dem Stift die Umrißlinien nachziehen.
„Jetzt zeichnet auf die Hand eine Fliege — zur
Fliege eine Mücke": mühelos gelingt groß—klein
in der Darstellung. „Neben die Hand zeichnet
einen Apfel, eine Pflaume, Kirschen."
Die Größenverhältnisse stimmen alle — durch-
gehend. — „Jetzt zeichnet mir dazu einen Elefan-
ten!1- Kinder: „Ja, das geht nicht!" „Warum?"
„Das Blatt ist zu klein, wir brauchen die ganze
Wand!" — „Aber ihr konntet doch sonst Pferde
und Häuser auf ein kleines Zeichenblatt malen,
warum d< ,n jetzt nicht den Elefanten?" „Weil
der Elefant mit der Hand nicht mehr stimmt."
Neues Blatt — neue Aufgabe: „Einen alten und
einen Babyelefanten zeichnen." „Jetzt geht's!"
..Dazu einen Wärter — sein Kind — die Hand des
Kindes — auf die Hand des Kindes die Mücke!"
..Das geht aber nicht mehr!" rufen die Kinder.
Und so war es geschehen, daß ohne viel Reden
eine klare Anschauung von groß—klein entstan-
den war.
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Aus dem Unterricht der Ittenschule
JOHANNES ITTE N
Die in diesem Aufsatz publizierten Arbeiten
sind Resultate meines Unterrichts während der
drei letzten Jahre. (Die farbig malerischen Ver-
suche sind dabei nicht berücksichtigt.) Ich be-
gann diesen Unterricht 1916 in Wien. Von 1919
bis 1921 arbeitete ich daran weiter am Bauhaus
in Weimar, zu dessen pädagogischer Grundlage
er wurde. Die erste große Bauhausausstellung
1923 gab der Öffentlichkeit davon Kenntnis.
Das Studium der Materien wurde nach meinem
Weggang durch Prof. Moholy-Nagy und meinen
Schüler Prof. Albers fortgeführt und in gewis-
sem Sinne erweitert. Aber die programmatischen
Tendenzen des Bauhauses verhinderten das or-
ganische Entwickeln der breit angelegten Unter-
richtsweise.
Von allem Anfang an war mein Unterricht auf
kein besonders fixiertes äußeres Ziel eingestellt.
Der Mensch selbst als ein aufzubauendes, ent-
wicklungsfähiges Wesen schien mir Aufgabe
meiner pädagogischen Bemühungen. Sinnesent-
wicklung, Steigerung der Denkfähigkeit und des
seelischen Erlebens, Lockerung und Durchbil-
dung der körperlichen Organe und Funktionen
sind die Mittel und Wege für den erzieherisch
verantwortungsbewußten Lehrer. Phrenologi-
sche, physiognomische, physiologische und psy-
chologische Kenntnisse gestatten ihm tiefere
Einsicht in das Wissen um die Möglichkeiten.
Anlagen, Denkweisen, Empfindungsarten und
schöpferischen Kräfte der Lernenden. Jeder
Lernende ist ein Erziehungsproblem für sich!
Seine Arbeit wird wertvoll in dem Maße, wie sie
individuell, einmalig ursprünglich getan wird. Die
allgemeinen Gesetzmäßigkeiten der Form- und
Farbenwelten zu übermitteln und die schöpfe-
rische Ausdruckskraft des Lernenden zu stei-
gern, ist Zweck aller Erziehungskunst für bil-
dende Künstler.
Ich wage zu behaupten, daß die hier in einigen
Beispielen erläuterte Formenlehre die Grundlage
einer allgemein gültigen Einführung in alle Ge-
biete der Bildenden Kunst enthält. Im Rahmen
dieses kleinen Aufsatzes mögen aber Lücken
und Undeutlichkeiten verziehen sein.
Wie ich das Wesen der Relativität aller
Sinnestätigkeit acht- bis zwölfjährigen Kin-
dern am Beispiele der Proportion erklärte.
Aufgabe: Die Kinder legen ihre Hand auf
den Zeichenbogen und zeichnen sie nach, indem
sie mit dem Stift die Umrißlinien nachziehen.
„Jetzt zeichnet auf die Hand eine Fliege — zur
Fliege eine Mücke": mühelos gelingt groß—klein
in der Darstellung. „Neben die Hand zeichnet
einen Apfel, eine Pflaume, Kirschen."
Die Größenverhältnisse stimmen alle — durch-
gehend. — „Jetzt zeichnet mir dazu einen Elefan-
ten!1- Kinder: „Ja, das geht nicht!" „Warum?"
„Das Blatt ist zu klein, wir brauchen die ganze
Wand!" — „Aber ihr konntet doch sonst Pferde
und Häuser auf ein kleines Zeichenblatt malen,
warum d< ,n jetzt nicht den Elefanten?" „Weil
der Elefant mit der Hand nicht mehr stimmt."
Neues Blatt — neue Aufgabe: „Einen alten und
einen Babyelefanten zeichnen." „Jetzt geht's!"
..Dazu einen Wärter — sein Kind — die Hand des
Kindes — auf die Hand des Kindes die Mücke!"
..Das geht aber nicht mehr!" rufen die Kinder.
Und so war es geschehen, daß ohne viel Reden
eine klare Anschauung von groß—klein entstan-
den war.
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