DAS LICHTBILD
Rede zur Eröffnung der Internationalen Ausstellung „Das Lichtbild" München 1930, am 5. Juni, gehalten von Paul Renner
Wir veröffentlichen diese Rede von Paul Renner, um auf die ausgezeichnete Aussteilung „Das Lichtbild" in München hinzuweisen. Außerdem
machen wir darauf aufmerksam, daß Renner seine Ideen In einem Buch „Mechanisierte Grafik, Type und Typografie, Film und Foto, Farbe"
niedergelegt hat, das im Herbst dieses Jahres im Verlag Hermann Reckendorf G.m.b.H., Berlin SW 48, erscheint.
Die Stuttgarter Werkbundausstellung des vorigen
Jahres: Film und Foto, deren wichtigste Bestand-
teile im nördlichen Seitengang unserer Halle gezeigt
werden, glich so wenig allen früheren fotografischen
Ausstellungen, ihr Material war so ganz anders als
das ein Jahr zuvor noch auf der Kölner Pressa ge-
zeigte, daß man wohl mit dem gleichen Recht von
einer neuen Fotografie reden darf, wie man seit
einigen Jahren von einer neuen Baukunst und von
einer neuen Typografie spricht. Und wenn wir ein-
mal prüfen, was an dieser neuen Fotografie, der
auch unsere Internationale Ausstellung
Das Lichtbild München 1930 gewidmet ist,
so neu und anders aussieht, so werden wir Eigen-
schaften finden, die wir schon von anderen Gebie-
ten her als das besondere Merkmal unseres Zeit-
stiles kennen.
Fotografie ist zunächst nur eine grafische Tech-
nik, ein mechanisches Wiedergabeverfahren. Das
war der Buchdruck ursprünglich auch. Wir haben
uns aber daran gewöhnt, im Buchdruck eine Kunst
zu sehen, eine Kunst, die nicht gewinnt, sondern
verliert, wenn sie das Mechanische ihrer Herstel-
lung zu verleugnen sucht und sich um Wirkungen
bemüht, die nur der Handschrift möglich sind. Auch
die neue Fotografie hat den Versuch aufgegeben,
künstlerische Wirkungen dadurch zu erreichen, daß
sie Kreidezeichnungen, Schabkunstblätter oder
sonst eine manuelle Grafik vortäuscht. Sie will
heute nichts anderes sein als Fotografie: ob man
sie als Kunst anerkennt oder nicht, das kann sie ab-
warten.
Mir scheint, daß sie dabei auf dem besten Wege
ist. Denn eine Technik kann nur dann geistig bewäl-
tigt werden, wenn man ihre Eigengesetzlichkeit er-
kennt und anerkennt; wenn man also von ihr nichts
verlangt, was ihr nicht gemäß ist. Daraus aber er-
gibt sich, was vielen immer noch paradox klingen
mag, daß alle mechanischen Techniken imitierende
Verfahren von zweifelhaftem Werte bleiben, wenn
man das Mechanische, das Starre, das unerbittlich
Exakte, das ihnen eigen ist. abzuschwächen sucht.
Die neue Fotografie, die neue Baukunst, der neue
Hausrat und die neue Typografie haben ihre spezi-
fisch moderne Note von dieser geistigen Ausein-
andersetzung des Menschen mit der Mechanisierung
gewonnen.
Und weil wir damit das besondere Arbeitsgebiet
des Deutschen Werkbundes berühren, der in Bayern
durch den Münchner Bund, den Veranlasser und Mit-
veranstalter dieser Ausstellung vertreten wird, so
bitte ich ein Mißverständnis aufklären zu dürfen,
dem unsere Arbeit oft begegnet. Selbst geistvolle
Beobachter übersehen, daß gerade bei dieser
Durchgeistigung der mechanischen Techniken der
Mensch am zähesten um seine Selbstbehauptung
kämpft. Man glaubt, er wage sich nur deshalb so
weit in das Leblos-Mechanische vor, weil er des
Menschlichen überdrüssig geworden wäre. Nein, wir
suchen das Mechanische auf, obwohl wir um seine
Dämonie wissen: wie der Kletterer in die Felsen
steigt, gegen die er doch mit jedem Handgriff sein
Leben zäh und umsichtig verteidigt. Wir möchten
nicht mit den Defaitisten verwechselt werden, die
wollüstig alle Niederlagen des Menschen in diesem
Kampfe gegen die Maschine genießen: und mit dem
fortschrittseligen Banausentum glücklich darüber
sind, wie herrlich mechanisiert unser Leben heute
schon geworden ist.
Wir Werkbundleute wissen, was die Menschheit
durch diese Mechanisierung verloren hat. Wir wis-
sen, daß man nur auf einem, von moderner Technik
kaum berührten Dorfe den ungebrochenen Menschen
in der Fülle seines Lebens findet, daß man nur dort
weiß, was Frühling, Sommer, Herbst und Winter
sind: daß man nur dort erfahren kann, wie die be-
scheidensten Dinge, die wir auch in der Stadt zu
haben glauben, wie Brot, Milch, Butter und Honig
in Wirklichkeit schmecken. Auch von uns würde
mancher lieber auf dem Dorfe leben als in einer
Großstadt, wenn er sich diesen Luxus leisten könnte.
Aber wir haben die Großstädte und ihre Lebens-
bedingungen nicht geschaffen, sondern wir haben
sie vorgefunden und wir können sie nicht wieder be-
seitigen. Und ebenso wenig haben wir die maschi-
nelle Technik, die heute längst in jeden Kleinbetrieb
eingedrungen ist, geschaffen oder gefördert. Wir
sind nicht die Zauberlehrlinge, für die man uns so
oft hält. Doch wir stehen auch nicht hilflos die
Hände ringend vor diesem Untergang der alten Kul-
tur. Wir suchen nicht in ein romantisches Niemands-
land des Kunsthandwerks zu fliehen. Wir bauen
auch keine Arche Noah, um in Einzelexemplaren die
Gattungen zu retten, die nur leben können, wenn
sich die Flut wieder verlaufen hat. Wir sind davon
überzeugt, daß sich diese Flut niemals verlaufen
wird. Und wir tun nun das einzige, was uns heute
zu tun übrigbleibt. Wir machen uns mit diesem un-
heimlichen Element des Mechanischen vertraut; wir
leben in ihm, nicht wie der Fisch im Wasser: aber
wie der Seefahrer auf dem Meere, dessen Tücken
und dessen Gefahren er besser kennt, als der für
das Meer schwärmende Badegast.
Nein, diese Flut wird sich niemals wieder verlau-
fen. Das geschriebene Buch, dessen Schönheit wir
zu schätzen wissen wie irgend jemand, ist für immer
durch das gedruckte Buch ersetzt worden, obwohl
noch zu Turgenjews Zeiten der russische Zar kein
Buch las, das nicht ein Kalligraf zuvor für ihn in
einer besonderen Zierschrift abgeschrieben hatte.
Vielleicht könnte der russische Zar heute noch ge-
druckte Bücher und Gazetten lesen, wenn seine Vor-
gänger etwas früher damit angefangen hätten. Wir
gönnen es jedem, der es sich heute noch leisten
kann, daß er sich ein Haus nach seinem persönlich-
sten Geschmack baut und mit seiner Einrichtung
die letzten Kunsthandwerker beschäftigt, aber viel-
leicht ist es ein Dienst, den wir noch mehr unseren
Enkeln und Urenkeln erweisen als uns selbst, wenn
wir uns heute so ernsthaft um die Gestaltung der
billigen Fabrikware, um die Form des maschinell
hergestellten Hausrates, um die Grundrisse der
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Rede zur Eröffnung der Internationalen Ausstellung „Das Lichtbild" München 1930, am 5. Juni, gehalten von Paul Renner
Wir veröffentlichen diese Rede von Paul Renner, um auf die ausgezeichnete Aussteilung „Das Lichtbild" in München hinzuweisen. Außerdem
machen wir darauf aufmerksam, daß Renner seine Ideen In einem Buch „Mechanisierte Grafik, Type und Typografie, Film und Foto, Farbe"
niedergelegt hat, das im Herbst dieses Jahres im Verlag Hermann Reckendorf G.m.b.H., Berlin SW 48, erscheint.
Die Stuttgarter Werkbundausstellung des vorigen
Jahres: Film und Foto, deren wichtigste Bestand-
teile im nördlichen Seitengang unserer Halle gezeigt
werden, glich so wenig allen früheren fotografischen
Ausstellungen, ihr Material war so ganz anders als
das ein Jahr zuvor noch auf der Kölner Pressa ge-
zeigte, daß man wohl mit dem gleichen Recht von
einer neuen Fotografie reden darf, wie man seit
einigen Jahren von einer neuen Baukunst und von
einer neuen Typografie spricht. Und wenn wir ein-
mal prüfen, was an dieser neuen Fotografie, der
auch unsere Internationale Ausstellung
Das Lichtbild München 1930 gewidmet ist,
so neu und anders aussieht, so werden wir Eigen-
schaften finden, die wir schon von anderen Gebie-
ten her als das besondere Merkmal unseres Zeit-
stiles kennen.
Fotografie ist zunächst nur eine grafische Tech-
nik, ein mechanisches Wiedergabeverfahren. Das
war der Buchdruck ursprünglich auch. Wir haben
uns aber daran gewöhnt, im Buchdruck eine Kunst
zu sehen, eine Kunst, die nicht gewinnt, sondern
verliert, wenn sie das Mechanische ihrer Herstel-
lung zu verleugnen sucht und sich um Wirkungen
bemüht, die nur der Handschrift möglich sind. Auch
die neue Fotografie hat den Versuch aufgegeben,
künstlerische Wirkungen dadurch zu erreichen, daß
sie Kreidezeichnungen, Schabkunstblätter oder
sonst eine manuelle Grafik vortäuscht. Sie will
heute nichts anderes sein als Fotografie: ob man
sie als Kunst anerkennt oder nicht, das kann sie ab-
warten.
Mir scheint, daß sie dabei auf dem besten Wege
ist. Denn eine Technik kann nur dann geistig bewäl-
tigt werden, wenn man ihre Eigengesetzlichkeit er-
kennt und anerkennt; wenn man also von ihr nichts
verlangt, was ihr nicht gemäß ist. Daraus aber er-
gibt sich, was vielen immer noch paradox klingen
mag, daß alle mechanischen Techniken imitierende
Verfahren von zweifelhaftem Werte bleiben, wenn
man das Mechanische, das Starre, das unerbittlich
Exakte, das ihnen eigen ist. abzuschwächen sucht.
Die neue Fotografie, die neue Baukunst, der neue
Hausrat und die neue Typografie haben ihre spezi-
fisch moderne Note von dieser geistigen Ausein-
andersetzung des Menschen mit der Mechanisierung
gewonnen.
Und weil wir damit das besondere Arbeitsgebiet
des Deutschen Werkbundes berühren, der in Bayern
durch den Münchner Bund, den Veranlasser und Mit-
veranstalter dieser Ausstellung vertreten wird, so
bitte ich ein Mißverständnis aufklären zu dürfen,
dem unsere Arbeit oft begegnet. Selbst geistvolle
Beobachter übersehen, daß gerade bei dieser
Durchgeistigung der mechanischen Techniken der
Mensch am zähesten um seine Selbstbehauptung
kämpft. Man glaubt, er wage sich nur deshalb so
weit in das Leblos-Mechanische vor, weil er des
Menschlichen überdrüssig geworden wäre. Nein, wir
suchen das Mechanische auf, obwohl wir um seine
Dämonie wissen: wie der Kletterer in die Felsen
steigt, gegen die er doch mit jedem Handgriff sein
Leben zäh und umsichtig verteidigt. Wir möchten
nicht mit den Defaitisten verwechselt werden, die
wollüstig alle Niederlagen des Menschen in diesem
Kampfe gegen die Maschine genießen: und mit dem
fortschrittseligen Banausentum glücklich darüber
sind, wie herrlich mechanisiert unser Leben heute
schon geworden ist.
Wir Werkbundleute wissen, was die Menschheit
durch diese Mechanisierung verloren hat. Wir wis-
sen, daß man nur auf einem, von moderner Technik
kaum berührten Dorfe den ungebrochenen Menschen
in der Fülle seines Lebens findet, daß man nur dort
weiß, was Frühling, Sommer, Herbst und Winter
sind: daß man nur dort erfahren kann, wie die be-
scheidensten Dinge, die wir auch in der Stadt zu
haben glauben, wie Brot, Milch, Butter und Honig
in Wirklichkeit schmecken. Auch von uns würde
mancher lieber auf dem Dorfe leben als in einer
Großstadt, wenn er sich diesen Luxus leisten könnte.
Aber wir haben die Großstädte und ihre Lebens-
bedingungen nicht geschaffen, sondern wir haben
sie vorgefunden und wir können sie nicht wieder be-
seitigen. Und ebenso wenig haben wir die maschi-
nelle Technik, die heute längst in jeden Kleinbetrieb
eingedrungen ist, geschaffen oder gefördert. Wir
sind nicht die Zauberlehrlinge, für die man uns so
oft hält. Doch wir stehen auch nicht hilflos die
Hände ringend vor diesem Untergang der alten Kul-
tur. Wir suchen nicht in ein romantisches Niemands-
land des Kunsthandwerks zu fliehen. Wir bauen
auch keine Arche Noah, um in Einzelexemplaren die
Gattungen zu retten, die nur leben können, wenn
sich die Flut wieder verlaufen hat. Wir sind davon
überzeugt, daß sich diese Flut niemals verlaufen
wird. Und wir tun nun das einzige, was uns heute
zu tun übrigbleibt. Wir machen uns mit diesem un-
heimlichen Element des Mechanischen vertraut; wir
leben in ihm, nicht wie der Fisch im Wasser: aber
wie der Seefahrer auf dem Meere, dessen Tücken
und dessen Gefahren er besser kennt, als der für
das Meer schwärmende Badegast.
Nein, diese Flut wird sich niemals wieder verlau-
fen. Das geschriebene Buch, dessen Schönheit wir
zu schätzen wissen wie irgend jemand, ist für immer
durch das gedruckte Buch ersetzt worden, obwohl
noch zu Turgenjews Zeiten der russische Zar kein
Buch las, das nicht ein Kalligraf zuvor für ihn in
einer besonderen Zierschrift abgeschrieben hatte.
Vielleicht könnte der russische Zar heute noch ge-
druckte Bücher und Gazetten lesen, wenn seine Vor-
gänger etwas früher damit angefangen hätten. Wir
gönnen es jedem, der es sich heute noch leisten
kann, daß er sich ein Haus nach seinem persönlich-
sten Geschmack baut und mit seiner Einrichtung
die letzten Kunsthandwerker beschäftigt, aber viel-
leicht ist es ein Dienst, den wir noch mehr unseren
Enkeln und Urenkeln erweisen als uns selbst, wenn
wir uns heute so ernsthaft um die Gestaltung der
billigen Fabrikware, um die Form des maschinell
hergestellten Hausrates, um die Grundrisse der
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