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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 5.1930

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Schwab-Felisch, Hildegard: Das Waisenhaus: Bau, Raum und Tracht
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https://doi.org/10.11588/diglit.13711#0021

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gleichsam für die fürstlichen Tuchfabriken. Und
trotzdem reichen letzte Ausläufer dieses Typs noch
bis in die Gegenwart hinein. Immer noch gibt es
Anstalten, ja sogar Neugründungen, die gleichzeitig
Waisen- und Altersheime sind oder wo — wenn auch
aus anderen Gedankengängen heraus — Waisen und
Fürsorgezöglinge gemeinsam untergebracht sind.

Das Gegenspiel fanden jene „Zucht- und Waisen-
häuser" in den pädagogischen Versuchen eines
August Hermann Francke oder eines Pestalozzi.

Mit August Hermann Francke, dem genialen und
doch engen Vertreter des Pietismus, entsteht ein
neuer Waisenhaustyp: Die Anstalt vorwiegend als
Schule und Vorbereitung auf bürgerlich-bescheidene
Lebensexistenz im Sinn christlicher Werktätigkeit.
Das Waisenhaus selber nahm daher aus teils päda-
gogischen, teils lebensmäßigen Gründen nur einen
verhältnismäßig kleinen Teil der immer weiter wach-
senden Stiftungen ein. Neben dem eigentlichen Wai-
senhaus wurden Lateinschule und Pädagogium er-
richtet, ferner Fräuleinstift, Witwenstift und vor
allem die produktiven Unternehmungen: Buchdrucke-
rei, Verlag, Apotheke usw. — Gebäude in einer
Straßenanordnung, so wie sie heute noch stehen und
auch benutzt werden. Ein Unterschied allerdings
ist zwischen der Raumaufteilung von einst und jetzt:
für Spiel und Sport hatte Francke nichts übrig. Erst
die neuere Zeit schuf umfangreiche Plätze und
Spielanlagen. Im übrigen wurden die Franckeschen
Stiftungen für den Charakter der Massen-Waisen-
anstalt vorbildlich, der das 18. und 19. Jahrhundert
beherrschte und der seine reinste Ausprägung in
dem Potsdamschen Großen Waisenhaus fand.

Der Gründer des Großen Potsdamschen Militär-
Waisenhauses, Friedrich Wilhelm I., war eigens nach
Halle gefahren, um den Bau und die Einrichtungen
Franckes zu studieren. Der große zentrale Eßsaal
mit einer Galerie oben, aus der ein versteckter Zu-
schauer die Kinder beim Essen beobachten konnte,
wurde beispielsweise von ihm ganz ähnlich über-
nommen. Ebenso die Angliederung von Schule und
Kirche an das Waisenhaus. Aber im übrigen war sein
Gesichtspunkt trotz der gleichen Einstellung zu
einer Art handfesten Christentums doch um eine
wesentliche Schattierung anders: „in massen Wir
dann nichts lieber sehen und wünschen, als daß die
Anzahl derer Waysen-Kinder täglich stärker werde
und zunehme" — diese unsterblichen Worte aus sei-
ner Stiftungsurkunde zeigen den veränderten Cha-
rakter des Zweckes einer Waisenanstalt gegen
frühere Zeiten, wo die Kinder aus christlichem Er-
barmen oder aus der staatspolitischen Notwendig-
keit, das heranwachsende Bettlervolk zu beschäf-
tigen, aufgenommen wurden. Jetzt sind es bevöl-
kerungspolitische Erwägungen, die den Bau derarti-
ger Anstalten empfehlen. Sie führen dazu, daß bei
einer ungeahnten Ausdehnung des Gesamtkom-
plexes die Anlage im einzelnen genau durchdacht
und unter dem Gesichtspunkt der Ausbildung eines
militärischen Nachwuchses ausgeführt wird. Fried-
rich II., der den Neubau des Waisenhauses einem
Künstler wie Gontard anvertraute, führte wie in
allem die Politik seines Vaters weiter: Eine reprä-
sentative Fassade, ganz im Geiste der Rokokozeit,
eine geistreiche Wendeltreppe, von einer kühnen
Kuppel überwölbt, das sind die Elemente, die der
Besucher zu sehen bekommt. Dahinter öffnet sich

Kurrende eines süddeutschen Foto Treumann

Waisenhauses

Schlafsaal im Waisenhaus Potsdam Atlantic Foto

Eßsaal im Waisenhaus Potsdam Atiantic-Foto

der große Hof, mehr ein Paradeplatz als ein Garten,
begrenzt von langflügligen Häusern mit engen hohen
Korridoren, öden Zimmern mit primitiven Wand-
kästen für die notwendigen Bücher und Hefte, end-
losen Schlafsälen von ungeheuren Proportionen in
Höhe und Länge, einem Eßsaal, der eher den Ein-
druck einer Garnisonkirche macht als eines Speise-
raums, weiterhin die Kirche, Schulzimmer, Wirt-
schaftsräume usw. Uberall dominiert der trostlose

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