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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 5.1930

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Hilberseimer, Ludwig: Neue Literatur über Städtebau
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https://doi.org/10.11588/diglit.13711#0605

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das mit den amerikanischen Städten nicht nur das
schnelle Wachstum, sondern auch „die für Groß-
städte charakteristische Wanderung von Produk-
tionsstätten und der Geschäftsviertel, das relative
Steigen und Fallen der Bodenwerte u. a. m." gemein-
sam hat.

Speziell mit dem Problem des Verkehrs be-
schäftigt sich Hans Ludwig Sierks in seinem Buche
„Grundriß der sicheren, reichen, ruhigen Stadt"
(Verlag Kaden & Co., Dresden).

Sierks ist Städtebau- und Verkehrsingenieur. Sein
Leitgedanke ist, den verkehrstechnischen Organis-
mus der Stadt so zu regeln, daß die heute als un-
vermeidlich angesehenen Verkehrsunfälle vollkom-
men unmöglich werden. Um dieses Ziel zu erreichen,
verlangt Sierks vorläufig nichts als die Aufstellung
eines wissenschaftlichen Bebauungsplanes für die
Großstädte und den festen Willen zu dessen straf-
fer Durchführung nach Maßgabe der verfügbaren
Mittel und des natürlichen Erneuerungsprozesses.
Eine Forderung, die als so selbstverständlich gel-
ten müßte, daß man sich wundert, daß sie überhaupt
noch erhoben werden muß. Es werden zwar Bebau-
ungspläne aufgestellt, jedoch ohne über die Prinzi-
pien wissenschaftlicher Planung im Städtebau im
klaren zu sein.

Im Gegensatz zum herrschenden Dogma behaup-
tet Sierks, daß es unmöglich ist, unter Beibehaltung
nennenswerter Bestandteile der heutigen Großstadt-
grundrisse den Forderungen der Verkehrs- und
Städtebauwissenschaft genügen zu können. Bei so
prinzipieller Stellung zu dem Grundproblem des
Städtebaus läßt sich Sierks im Gegensatz zu seinem
vor einigen Jahren erschienenen Buche „Wirtschaft-
licher Städtebau" von wirtschaftlichen Erwägungen
nur in ganz untergeordnetem Maße leiten, weil es
sich für ihn um die Aufdeckung der Elemente des
Städtebaus und ihre Anwendung handelt, ohne Rück-
sicht auf ihre momentane Rentabilität. Als Städte-
bau- und Verkehrsingenieur empfindet Sierks „den
schweren Vorwurf des Versagens, den die Opfer
des Straßenverkehrs bzw. ihre Angehörigen gegen
den Stand der Verkehrsingenieure erheben können,
so stark, daß er schon an das Persönliche grenzt.
Menschenleben und Menschenglück zu schonen,
ist daher zuerst, zuletzt und immerdar der Leitge-
danke dieses Buches." — Die Amerikaner, die auch
das Menschenleben in Dollars zu schätzen gewohnt
sind, haben nach Wagner (Städtebauliche Probleme)
den Verlust an Nationalvermögen durch Verkehrs-
todesfälle und Verletzungen im Jahre 1923 auf 600
Millionen Dollars bemessen.1)

Die Forderung von Sierks ist daher menschlich
und finanziell nur zu berechtigt, einen Stadtorganis-
mus verkehrstechnisch so aufzubauen, daß Verluste
an Menschenleben möglichst überhaupt nicht zu be-
klagen sind. Den Grundriß einer idealen Stadtform
legt Sierks generell durch zwei konzentrische Kreise
oder Vielecke fest. Diese bilden zugleich die klare
Trennungslinie zwischen der City und dem Wohn-
gebiet und dem weiten Gebiet der Industrie und
der Nahrungsmittelerzeugung. Er ist der Meinung.

') Das statistische Büro des Handelsministeriums zu Washington
stellte für das Jahr 1923 in den Vereinigten Staaten 22600 Todes-
fälle und 678000 schwere Verletzungen fest, von denen 85% durch
Automobilunfälle verursacht wurden. Zu der Summe von 600000000
Dollars kam man unter Zugrundelegung eines Jahresarbeitsertrages
von 4000—5000 Dollars pro Kopf.

daß für die City nur das Hochhaus, für das Wohn-
gebiet nur das Einfamilienhaus die Schlußform der
baulichen Entwicklung sein wird.

Das Besondere des Vorschlags von Sierks liegt
in der verkehrstechnischen Verbindung dieser ein-
zelnen Gebiete untereinander. Er fordert drei Ver-
kehrsebenen. Eine unter Terrain für die Schnellbah-
nen, eine über Terrain für die Motorfahrzeuge und
eine im Terrain für alle übrigen Verkehrstypen, so-
wie eine absolut klare Trennung zwischen Wohn-
und Verkehrsstraßen. Eine Straße könnte zwar zu
gleicher Zeit Wohn- und Geschäftsstraße sein, sollte
aber niemals gleichzeitig dem Durchgangsverkehr
dienen. Daß die Schnellbahnebene nur der Schnell-
bahn dient, ist eine Selbstverständlichkeit. Sierks
verlangt aber auch diese Selbstverständlichkeit für
die Verkehrsebene der Motorfahrzeuge. Er erreicht
dadurch, daß die Motorfahrzeuge unter Ausnutzung
ihrer Höchstgeschwindigkeit fahren und somit große
Entfernungen in relativ kurzer Zeit zurücklegen
können.

Sein Verkehrsstraßensystem gliedert sich in reine
Radial- und reine Ringstraßen. Auf Diagonalstraßen
verzichtet er, weil Umwege für Kraftfahrzeuge be-
deutungslos sind. Grundsätzlich vermeidet er
Niveaukreuzungen.

Die Konstruktion des Verkehrsliniennetzes beruht
auf einer Einflußzonenbreite von 1000 m für alles,
was radial, und von 2000 m für alles, was periphe-
risch geführt ist, gleichgültig, ob es sich um Straßen
oder Bahnen handelt. Das Netz der Radialverkehrs-
straßen liegt etwa 5 m über und das der Ringstraßen
im Terrain. Die Kreuzungen beider sind also von
vornherein niveaufrei und deshalb zur Verbindung
der Fahrbahnen Rampen erforderlich. Dieses Ram-
pensystem hat Sierks mit der höchsten technischen
Vollkommenheit durchgebildet.

Analog diesem Verkehrsstraßensystem und von
der gleichen Vollkommenheit ist das von ihm vor-
geschlagene Schnellbahnsystem, das so angelegt
ist, daß es unbegrenzt ausgedehnt werden kann,
allseitiges Umsteigen erlaubt und rascheste Zug-
folge ermöglicht.

Allerdings setzt diese Lösung, die den Stadtorga-
nismus völlig umwandelt, wie Sierks mit Recht be-
tont, eine andere Gesellschaftsordnung mit ganz
anderen Machtbefugnissen zugunsten der Gesamt-
heit voraus. Offen bleibt dann freilich die Frage,
ob unter so veränderten Verhältnissen überhaupt
noch der Verkehr in den Mittelpunkt der Planungen
zu stellen ist oder ob nicht vielmehr bei einer plan-
mäßig durchgeführten Wirtschaft die städtebauli-
chen Aufgaben so gelöst werden können, daß der
Verkehr, der heute infolge der Desorganisation von
Wirtschaft und Stadt eine so überragende Rolle
spielt, auf ein Minimum reduziert, zum Teil sogar
überflüssig gemacht werden kann. Wenn die je
nach der Konjunktur vorhandenen Schwankungen
in der Aufnahmefähigkeit des Arbeitsmarktes weg-
fallen, die heute für die Arbeitskräfte den häufigen
Wechsel der Arbeitsstätte mit sich bringen, wird
auch eine planmäßige Inbeziehungsetzung von der
Arbeits- zur Wohnstätte möglich sein.

Aber unabhängig davon muß gesagt werden, daß
ein Stadtorganismus nicht nur einseitig vom ver-
kehrstechnischen Standpunkt betrachtet werden
kann. Die Wohnungsfrage, insbesondere die Lage

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