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Die Form: Zeitschrift für gestaltende Arbeit — 5.1930

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Hilberseimer, Ludwig: Neue Literatur über Städtebau
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https://doi.org/10.11588/diglit.13711#0606

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der Wohnung zur Sonne, zur Windrichtung, der Ab-
stand zwischen den Häusern, spielt eine mindestens
ebenso wichtige Rolle. Durch die Anordnung des
Straßen- und Bahnsystems bei Sierks ist der Kreis
der Stadt in Wohnquartiere eingeteilt, die in ihrer
Orientierung nicht durch die hygienischen Erforder-
nisse des Wohnens, sondern durch das zufällige
Ergebnis des Verkehrssystems bedingt sind. Wie
die Medizin anfängt, die Gefahren des Spezialisten-
tums zu erkennen und zu überwinden und den Satz
geprägt hat, daß es nicht die Krankheit, sondern nur
den kranken Menschen gibt, so gibt es auch im
Städtebau zwar Spezialfragen, doch dürfen diese
bei aller Wichtigkeit niemals für sich allein, sondern
nur im Zusammenhang mit dem Ganzen betrachtet
werden. Erst dann kann die Stadt wirklich gesunden.

Speziell mit den hygienischen Problemen des
Städtebaus befaßt sich das von A. Augustin Rey,
Justin Pidoux und Charles Barde herausgegebene
Buch „La Science des Plans de Villes" (Payet &
Cie., Lausanne, Dunod, Paris), dem eine Arbeit über
die Lage der Wohnungen zu den Himmelsrichtungen
zugrunde liegt, die anläßlich des 2. Internationalen
Kongresses für Wohnungshygiene in Genf 1906 ver-
faßt worden ist. Es mutet zunächst merkwürdig an,
daß bei den Autoren außer zwei Architekten ein
Astronom, Justin Pidoux, an der Bearbeitung dieses
Buches beteiligt ist. Bei der Bedeutung jedoch, die
die Fragen der Besonnung, des Klimas, der geogra-
fischen und metereologischen Verhältnisse für
die Schaffung hygienisch einwandfreier Wohnungen
haben, ist es durchaus richtig und zweckmäßig und
sollte eigentlich selbstverständlich sein, alle Ergeb-
nisse exakter Wissenschaft auch für die Fragen
des Städtebaues nutzbar zu machen. Das Buch
behandelt die gesundheitlichen Verhältnisse der
Städte auf Grund dieser astronomischen Gegeben-
heiten, die Grundelemente der wissenschaftlichen
Städteplanung, Straßen, ihren Verlauf, Plätze, Wohn-
haustypen, Gebäudehöhe, rationelle Teilung des Ge-
ländes, Geschäfts-, Industrie-, Wohnviertel, Verkehrs-
wesen, Kanalisation. Außerdem die Ausdehnungs-
möglichkeiten der Städte nach verschiedenen Ge-
sichtspunkten.

Zum Schluß werden Berechnungen über die mög-
liche Bevölkerungsdichtigkeit einer nach einwand-
freien Prinzipien gebauten Stadt gegeben, bei der
auf gleichem Raum wie heute die gleiche Anzahl
Menschen, jedoch ohne die Nebenerscheinung der
Übervölkerung gewisser Viertel, untergebracht wer-
den können.

So richtig diese Ergebnisse auch sind, darf
doch nicht übersehen werden, daß die Bevölke-
rungsdichtigkeit der heutigen Großstädte nicht den
Maßstab für die Bevölkerungsdichtigkeit einer Stadt
überhaupt bilden darf. Gewiß kann bei konsequen-
ter Planung auch auf begrenztem Raum der einzelne
möglichst vorteilhaft untergebracht werden. Eine
vollkommene Lösung ist aber nur bei Verzicht auf
die heutige Bevölkerungsdichtigkeit der Großstädte
und durch weitgehende Auflockerung des Stadt-
gebietes möglich. Hier berühren sich die Probleme
des Städtebaues mit denen der Landesplanung, die
wiederum von wirtschaftlichen und politischen Fra-
gen abhängig sind.

Dieses umfassendste Problem, die Stadt- und
Landesplanung, behandelt Gustav Langen in seinem

520

im Verlag Reimar Hobbing, Berlin, und Deutsche
Bauzeitung, Berlin, erschienenen Buche „Deutscher
Lebensraum. Ein Beitrag zur deutschen Bauwirt-
schaft und zur Gesamtrationalisierung in Wirtschaft,
Siedlung und Volksleben." Eine planmäßige und vor-
ausschauende Gestaltung der Raumwirtschaft vom
Standpunkt der Gesamtheit ist nur in engem Zu-
sammenhang mit der Gesamtwirtschaft möglich. Wie
Martin Mächler Vorschläge für eine funktionsmäßige
Gestaltung Berlins macht, durch planvolle Umsied-
lung der Industrie an Randgebieten der Stadt, ihre
Zusammenlegung nach Maßgabe ihrer inneren Zu-
sammengehörigkeit und gegenseitigen Nutzbar-
machung, durch Gruppierung von Industrieverwal-
tung, Staatsverwaltung und Großhandel innerhalb
des Stadtkerns, Untergruppierungen der einzelnen
Fabrikationszweige, Trennung der Wohn- von den
Geschäftsvierteln, so beschäftigt sich Langen mit
einer funktionsmäßigen Stadt- und Landesplanung.
Unter besonderem Hinweis auf die technischen Zu-
sammenhänge zwischen Industrie und Landwirt-
schaft gibt er Anregungen für die Zusammenarbeit
von Stadt und Land und den Ausbau in der Verwer-
tung der technischen Kräfte. Die Umstellung in der
Landwirtschaft, die in engem Zusammenhang mit
einem höchst entwickelten Verkehrssystem (Eisen-
bahn, Automobil, Schiffahrt, Luftschiffahrt) steht,
wird erhöhten Anreiz für eine Rücksiedlung groß-
städtischer Arbeiter geben, gleichzeitig aber auch
bei entsprechend umgelagerten Industrien den Sied-
lern die Möglichkeit ergänzender Fabrikarbeit, den
Fabrikarbeitern die Möglichkeit ergänzender Land-
arbeit bieten. Die Folge wäre eine Dezentralisation,
eine Auflockerung der Großstädte, die einen großen
Teil der mit dem Wohn- und Verkehrsproblem der
Großstädte verknüpften Aufgaben automatisch
lösen würde.

Langen weiß und spricht es auch aus, daß so um-
fassende Planungen nur möglich sind bei großer
Einschränkung der Sonderinteressen von Einzelper-
sonen und -gruppen und bei stärkster genossen-
schaftlicher Disziplin, ohne jedoch eindeutig und
klar die hierzu nötige Voraussetzung einer gesell-
schaftlichen Umwandlung herauszuheben. Die Be-
tonung der Überparteilichkeit ist zwar verständlich
bei dem herrschenden Parteiwirrwarr, der Reform-
pläne nicht an sachlichen, sondern an fraktionellen
Erwägungen scheitern läßt. Eine Wirtschaftsum-
stellung so großen Ausmaßes ist jedoch ohne ein
konsequentes Bekenntnis zur Gemeinwirtschaft im
Gegensatz zur Privatwirtschaft nicht möglich. Nur
so ist der innere Gegensatz zwischen Bauer und
Arbeiter, auf den nirgends näher eingegangen wird,
zu überbrücken, denn ohne eine innere gesinnungs-
mäßige Annäherung beider Gruppen ist ein Ausgleich
zwischen Stadt und Land im Sinne Langens nicht
möglich.

Mit der formalen Erscheinung der Stadt beschäf-
tigt sich Paul Zucker in seinem Buch „Die Entwick-
lung des Stadtbildes", das mit zahlreichen Abbil-
dungen und einer umfangreichen Bibliografie ver-
sehen in der von Dagobert Frey herausgegebenen
Sammlung „Die Baukunst" im Dreimasken-Verlag,
München-Berlin, erschienen ist. Zucker unterschei-
det, wie üblich, organisch entwickelte und tekto-
nisch gegründete Städte. Mit Brinckmann ist er der
Meinung, daß nur den tektonisch gegründeten Städ-
 
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