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Münsterbau-Verein <Freiburg, Breisgau> [Hrsg.]
Freiburger Münsterblätter: Halbjahrsschrift für die Geschichte und Kunst des Freiburger Münsters — 1.1905

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Keppler, Paul Wilhelm von: Der Freiburger Münsterturm
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https://doi.org/10.11588/diglit.2395#0018
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Das Münster von Nordosten (Schlossberg).

Der Freiburger Münsterturm

ästhetisch gewürdigt.

Ein Vortrag von

Bischof Dr. Paul Wilhelm von Keppler in Rottenburg.

ort bei Kairo, wo das Reich des Lebens
und das Reich des Todes sich begegnen,
wo das Inundationsgebiet des leben-
) spendenden Vaters Nil übergeht in die
Sandsteppen der libyschen Wüste, ragen
nun schon seit fünf Jahrtausenden wie gigantische
Grenzwächter jene seltsam geformten Hochgebirge
auf, weithin das Land beherrschend — die Pyramiden.
Wer sie einmal gesehen, kann sie nimmer vergessen.
Es sind keine Berge der Natur, es sind Werke
menschlicher Hand. Die ungebrochene Menschen-
kraft der Urzeit hat sie geschaffen. Der Schmerz
war der Vater eines so titanenhaften Gedankens, die
Hoffnung seine Mutter. Der Schmerz über die Sterb-
lichkeit, Vergänglichkeit, Veränderlichkeit alles
Menschlichen im Bunde mit dem felsenfesten Glauben
an ein jenseitiges Leben, mit der Hoffnung auf Un-
sterblichkeit und Ewigkeit erdachte und schuf diese
kolossalen Monumente; sie sollten an Größe und
Dauerhaftigkeit wetteifern können mit der Majestät
der Hochgebirge; durch ihre ungeheuren Dimensionen
sollten sie gleichsam dem Reiche des Todes und der
Vergänglichkeit entrückt werden, das Andenken des
Pharao unsterblich machen und dem Leben und
Streben ungezählter Generationen feste Haltpunkte
geben und die Richtung nach dem Pol der Ewig-
keit.

Jahrtausende später entstanden auf deutschem
Boden Kolossalbauten, welche den stolzen Anspruch
erheben können, mit jenen Denksteinen der Urzeit
in Parallele gestellt zu werden; welche an Höhen-
entwicklung es ihnen gleichtun, ja sie überholt haben.
Auch sie ersann der Gedanke: Ewigkeit, durch das
Christentum geklärt und gefestigt, siegreich ankämp-
fend gegen das auf der Körperwelt lastende Gesetz
der Schwere, gegen die große Zerstörerin aller
Menschenwerke, die Zeit.

Der gotische Stil bot Möglichkeit und Mittel,
um diesen himmelanstrebenden Gedanken in Stein
zu verkörpern, in ganz anderer Weise, als die
Erbauer der Pyramiden dies versucht hatten. Es
war nicht mehr nötig, ganze Felsgebirge, Millionen
Kubikmeter Steine aufeinander zu türmen; es be-
durfte nicht mehr der enormen Basis, um den Auf-
schwung zu solcher Höhe wagen zu können. Der
gotische Stil, seinem Grundwesen nach Strebesystem
und Umsetzung der Last in strebende Kraft, konnte
von äußerst reduzierter Basis aus in raschem Auf-
streben dieselbe Höhe gewinnen.

Kaum fühlte die Gotik sich einigermaßen er-
starkt, kaum war sie zum Vollbewusstsein ihres
Könnens gekommen, da lockte es sie, gerade im
Turmbau ihr System zur vollsten Entfaltung zu
bringen und recht eigentlich auf die Spitze zu treiben,
 
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