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Nr. 1.
LÄMslsg, Ssn l. Mm
MOS.
Zur Einfuhrung.
" HeideIberg, 1. Mai. Schon ist der erste warme
Frühlingshauch durch die Lande gezogen und hat die
Kirschbäume an der Bergstraße zum Blühen und zum
Verblühen gebracht. Der Wald hat sich neu belaubt; die
Gärten beginnen farbigen Blumenschmuck anzulegen; ein
Teil der Zugvögel ist zurückgekehrt als Boten des deut-
schen Frühlings. Noch kommt er schüchtern und kund-
schaftend, noch weicht er zurück, wenn der Wind unfreund-
liches Gewölk gegen ihn aufbietet, aber in Kurzem wird
er als Triumphator einziehen und die Herrschaft des
Sommers vorbereiten.
Auf den Sommer setzt Heidelberg seine Hoffnungen:
er ist für unsere Stadt in doppelter Beziehung die gute
Jahreszeit. Nicht immer hat er gehalten, was er ver-
sprach, nicht immer hat er gebracht, was er bringen sollte.
Wird er,uns diesmal voll befriedigen?
Wir wollen es hoffen! Die Welt akmet seit einiger
Zeit wieder freier und froher. Das drohende politische
Gewölk hat sich verzogen, die wirtschaftliche Krisis neuer
Schaffenskraft Platz gemacht. Man blickt mit Vertrauen
in die Zukunft. Damit hebt sich die Freude an der Ge-
genwart und die Lust zum Genießen.
Welcher Genuß ist aber schönsr und reiner als der,
den ein Blick in unser herrliches Neckartal, ein Spazier-
gaNg auf Unssrsn nuSstchtSreirhens Zrivurrn
Das ist Erquickung für den Körper, ist Labung für den
Geist. Mögen also recht Viele Erholung und Erhebung
in unserer gemütlichen Stadt und ihrer herrlichen Um-
gebung suchen und finden!
Den Gästen aus Nah und Fern ein freundlicher bereit-
williger Führer zu sein, ist das „H e i d e l b e r g e r
Fr em d e n b l a t t" bestimmt. Mit dem heutigen 1.
Mai tritt es wieder ins Leben. Es bringt die Fremden-
liste, eine kurze Uebersicht über die Heidelberger
Sehenswürdigkeiten, macht auf die lohnendsten Ausflüge
aufmerksam, bietet das Programm für die täglichen Kon-
zerte auf dem Schloß und in dem Stadtgarten und weist
auf die sonstigen Zerstreuungen hin, die der Fremde hier
finden kann, hilft ihm durch seinen Jnseratenteil sich als
Konsument zu orientieren und trägt durch erzählenden
Text zu seiner Unterhaltung bei.
So hat sich das „Heidelberger Fremdenblatt" bei Frem-
den und Einheimischen als unentbehrliches Zubehör der
Saison eingebürgert. Wir empfehlen es ihrer Gunst auch
in diesem Jahr.
Ein kleines Korn, gesät ins Feld,
Bringt mit der Zeit dir tausend Aehren:
Ein Körnlein Liebe, gut bestellt,
Kann tausend Herzen Freud' gewähren.
S ch e r e r.
Mein Veisebegleiter.
Eine heitere Gaunergeschichte von Adolf Stark.
(Nachdruck verboten.)
Jni Jahre 1886 reiste ich von Wien nach Moskau, und
zwar mußte ich, dä es sich um eine sehr wichtige und
dringende Angelegenheit handelte, ununterbrochen bei
Tag und Nacht fahren. Das gehört nicht gerade zu den
Annehmlichkeiten, und am dritten Tage, oder besser ge-
sagt, beim Anbruch der dritten Nacht war ich halb tot,
denn ein unglücklicher Zufall hatte es mit sich gebracht,
daß in den vorangehenden Nächten die Züge stets über-
füllt ivaren, so daß an ein Schlafen oder auch nur Aus-
ruhen nicht zu denken war. Jch begrützte es daher aufs
freudigste, als diesmal mein Abteil fast leer blieb. Nur
ein einziger Fahrgast war zu mir eingestiegen, ein ro-
buster, den mittleren Jahren angehöriger Mann, mit dem
ich bald ins Gespräch kam, da er mir den Deutschen an-
sah und in hart klingendem, aber ziemlich fließendem
Deutsch verschiedene gleichgültige Fragen an mich stellte.
Meine hauptsächlichste Sorge war eine ungestörte
Nachtruhe, aber leider gab mir mein Gefährte eine wenig
tröstliche Auskunft. Anfangs sei dieser Zug, mit welchem
er allwöchentlich zweimal fahre, stets nur wenig besetzt,
aber in K., einer Zwischenstation, wo eine zweite Bahn-
liu»» .r—. ---- -
ubervoll.
„Dann ist wiederum an Schlaf nicht zu denken",
seufzte ich. Mein Gefährte überlegte einen Moment,
dann forderte er mich auf, mich ruhig hinzulegen, um zu
schlafen. Er wolle versuchen, das Abteil vor einer frem-
den Jnvasion zu schützen. Das Wie sei seine Sache. Jch
brauchte nichts zu tun, als ihm meine Karte zu übergeben.
Das tat ich gern und schlief bald den Schlaf des Ge-
rechten. Jn K. wachte ich auf. Das Gedränge war tat-
sächlich ungeheuer, ich sah durch das Wagenfenster, wie
zahlreiche Personen einstiegen, ich hörte ihre Tritte an
unserem Abteil vorüberkommen, hörte durch die trennen-
den Holzwände hindurch, wie die Nebenabteile sich füllten.
sonderbarerweise aber trat zu mir keiner herein. Jch stand
auf und schob den Vorhang der Tür beiseite. Draußen
stand mein Begleiter und sprach eben mit mehreren Rei-
senden, welche, ihr Gepäck in den Händen, ratlos umher-
blickten, weil sie offenbar nirgends mehr Platz fanden.
Mein plötzliches Auftauchen an der Glastüre schien eine
Dame erschreckt zu haben, denn sie schrie laut auf und
deutete entsetzt nach mir hin. Mein Begleiter wandte sich
um, riß die Schiebetüre auf und schrie mir auf Deutsch
zu: „Legen Sie sich sofort nieder, und schließen Sie den
Vorhang. Sonst kann ich nichts für Sie tun. Sie sehen
doch diese Menschheit hier."
Der barsche, ja herrische Ton, den er anschlug, behagte
mir zwar nicht recht, aber ich sagte mir, daß er wahr-
scheinlich ärgerlich sei, weil ich seine Mühe so wenig zu
schätzen wisse, und eine ungestörte Nacht war mir tatsäch-
lich in diesem Moment wichtiger als alles. So schloß ich
gehorsam die Türe, ließ den Vorhang herab und streckte
mich wieder auf den Polstern aus.
Wie lange ich geschlafen habe, weiß ich nicht. Jch er-
wachte jedoch mit dem Gefühl, daß irgend jemand sich an
meiner Brusttasche, in welcher ich eine beträchtliche
Summe trug, zu schaffen mache. Halb im Schlaf tastete
ich nach dem Portefeuille, aber meine Hand griff ins
Leere. Das ermunterte mich erstaunlich schnell. Mit einem
Satze war ich in die Höhe und sah gerade noch, wie mein
Begleiter durch die Abteiltür in den Gang hinaustrat.
Nur er konnte mir die Brieftasche entwendet haben, das
war mir klar. Mit wenigen Schritten war ich an seiner
Seite, und ohne auf die anderen Leute zu achten, die im
Gange umherstanden und ihre Zigaretten rauchten, schrie
ich ihm zu: „Geben Sie sofort meine Brieftasche her, sonst
lasse ich Sie verhaften."
Statt jeder Antwort faßte er mich am Arm und wollte
mich in das Abteil zurückstoßen. Dabei schrie er mir ein
paar Worte zu, in russischer Sprache, die ich nicht ver-
stand, aber dem Tone nach war es irgend ein barscher Be-
fehl. Das erregte natürlich meinen Zorn noch mehr. Da
im gleichen Moment der Zug pfiff, als Zeichen, daß er in
eine Station einsahre, .fürchtete ich, mein Mann würde
mir entschlüpfen. Jch hielt ihn mit aller Gewalt fest und
schrie nach dem Schaffner. Wahrscheinlich verstand jedoch
niemand die deutsch gesprochenen Worte, wenigstens
machte keiner Miene, mir beizustehen, im Gegenteil, die
Mitreisenden hielten sich sämtlich in scheuer Entfernung.
Mein Zorn stieg immer höher. Rasch entschlossen
wollte ich kurzen Prozeß machen. Aus der Brusttasche des
andern sah ich mein Portefeuille herausgucken, er schien
es gar nicht der Mühe wert zu finden, es zu verbergen.
Mit einem Satze stand ich neben ihm, entriß ihm das
Geld und gab ihm gleichzeitig einen so derben Stoß, daß
er zurücktaumelte. Dann wollte ich wieder, im glücklichen
Besitze meines Eigentums, in meinen Wagen zurückkehren,
als etwas Unerwartetes geschah. Der andere stürzte sich
auf mich, warf mich zu Boden, und merkwürdigerweise
fand er an den Mitreisenden Helfer. Jch schrie, ich tobte,
ich wehrte mich nach Kräften, mit dem einzigen Erfolg,
daß ich fünf Minuten später, an Händen und Füßen ge-
fesselt, auf den Polstern lag, während der Gauner seelen-
ruhig vor aller Augen mir die Brieftasche wieder abnahm
und sie zu sich steckte.
Jch war wie vor den Kopf geschlagen. Jch strengte
mein Hirn an, ohne aber einen Schlüssel für die rätsel-
haften Vorgänge finden zu können. Verständigen konnte
ich mich auch nicht, da ich des Russischen nicht mächtig war
nnd keiner meiner Mitreisenden Deutsch verstand, Aller-
Üoetfaüen"üsio ore Reisenden plündern, tauchten in mei-
nem Gehirn auf. Aber lvar so etwas auf dieser so beleb-
ten Strecke möglich? Und dann, ich hörte deutlich nebenan
plaudern, es war also keinem der Mitreisenden ein Leid
geschehen. Jch hörte auch das Pfeifen der Lokomotive,
vernahm das Knirschen der Bremsen, und im nächsten
Moment hielten wir.
Jch hatte einen schnellen Entschluß gefaßt. Ein Blick
durchs Fenster belehrte mich, daß wir in einem größeren
Orte waren. Hier wollte ich aussteigen und auch den an-
deren zwingen, den Zug zu verlassen. Es würde sich wohl
jemand in der Stadt finden, der Deutsch verstand, im
schlimmsten Falle wandte ich mich telegraphisch an das
nächste deutsche oder österreichische Konsulat.
Diese Gedanken waren rascher gefaßt, als sie hier nie-
dergeschrieben werden können, und der Wille gab mir auch
außergewöhnliche Kräfte. Mit einem Ruck hatte ich die
Fesseln abgestreift und stürzte barhäuptig, ohne mir Zeit
zu lassen, den Hut aufzusetzen oder mein Gepäck mitzu-
nehmen, auf den Bahnsteig hinaus, wo der freche Gauner
ruhig hin und her promenierte. Als er meiner ansichtig
wurde, fuhr er zusammen und wandte sich dem Zuge zu.
Jch fürchtete, er könnte mir entkommen, denn eben setzte
sich der Zug wieder in Bewegung. So stürzte ich denn auf
ihn zu und hielt ihn fest.
Aber das Ergebnis war auch diesmal dasselbe, wie im
Zuge. Ein halbes Dutzend kräftiger Fäuste ergriffen mich,
und nach wenigen Sekunden lag ich, ein hilflos zusam-
mengeschnürtes Bündel, in irgend einer finsteren Kam-
mer des Stationsgebäudes.
Am nächsten Tage kam der Arzt. Zum Glück war er
der deutschen Sprache mächtig, er hatte mehrere Semester
in Wien studiert. Erst jetzt erfuhr ich von der teuflisch
schlauen Jntrigue, der ich zum Opfer gefallen war.
Mein Begleiter hatte allen Leuten im Zuge erzählt,
daß ich irrsinnig und er der Arzt sei, Ver mich nach
Moskau in ein Sanatorium begleite. Mein Wahn be-
stehe darin, daß ich mich von aller Welt bestohlen glaube.
und dann gegen den vermeintlichen Räuber gewalttätig
vorgehe. So mußte mein ganzes Auftreten als Wahn-
sinn erscheinen. Und wer weiß, ob man mir so rasch ge-
glaubt hätte, wenn nicht das Verschwinden des angeblichen
Arztes — er war offenbar mit einem der durchgehenden
Züge heimlich weitergereist — besser als alles andere die
Wahrheit meiner Darstellung bewiesen hätte.
Brieftasche und Mann blieben für immer verschwun-
den. Es gelang der Polizei nicht, auch nur eine Spur
des schlauen Gauners zu entdecken.
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