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HANS KARLINGER
im Fremden zu stehen. Draußen im Menscheneinsamen, im „Elend“. Die landwan-
dernden, die „elenden“ Heiligen sind ihres Stammes. Die Geschichte schreibt das Jahr
Elf hundertfünfzig.
Was auf der Heerstraße vom Westen, aus dem Herzen des Reiches angefahren kam,
ging da vorüber. Die Pforte der Schotten war Regensburgs erster Gruß. Salve
Ratisbona!
II
„Die Tür steht offen dem Verlangenden, der um Friedung bittet.“ (Janua patet pul-
santi veniam precanti.) So stand geschrieben am Portal zu Steingaden, das in der Gene-
ration des Schottenportals gebaut ward. Zwei bis drei Generationen nach dem Jahr
Elfhundert.
Das Gleichnis von der Pforte, die Diesseitiges und Jenseitiges bindet, ist Zeitgut. In
unzähligen Inschriften und Wendungen kennt das 12. Jahrhundert diesen Satz. Hie
Welt, hie Gott und zwischen ihnen die Kraft menschlicher Seele, die bindet und löst.
Der Kosmos des Mittelalters.
Anderen Zeitaltern schien der Weg allgemeiner, von unpersönlichem Gesetz gewiesen.
Im Mittelalter ist das Einzel-Persönliche alles. Was will dem Einzelnen allgemeine
Notwendigkeit. Er selbst für sich allein kann nur Gewißheit haben. Nur er findet
seine Pforte.
Die Welt, das Ding, ist gleichmäßig allem, was vegetiert; das Außerweltliche eignet
dem Einzelnen. Noch ist — im Jahre Elfhundert — kein Sinnbild des Typischen ge-
funden (wie in der Gotik), das sich aus dem Vegetativen verklärte. Das Allgemeine
herrscht, das Unbestimmte. „Rem de re praedicari non posse, sed ideam de ideis",
sagen die Lehrer der Zeit.
Soweit die Universalien.
Aber wie jede Person — jedes Volk hat seine Helden, seine Unholde. Meermänner und
Nixen an der Küste, Zwerge und Riesen, Drachen und Recken im Alpenland. Held
Dietrich und Fabelkönig Laurin!
Und die Pforten — auch der Münster — gehören dem Volk. Drinnen, im abgegrenzten
Bezirke des Heiligtums wohnen die Wissenden. Ihre Vorstellungen gelten denen draußen
nur wie die lichterbeglänzten Wolken aufsteigenden Rauchwerkes. Die Portale reden
zum Volk. So will’s der Sinn des Mittelalters.
III
Fünf Pfostenpaare, prangend in der Linienpracht reichster Gewirke, stehen auf. Fünf
Löwenpaare darüber halten Wacht. Fünf Bogen wölben sich über sie. Spielwerk gleich
Zimbelklang — Figürchen und schattende Säume — sind zwischen sie gelegt.
HANS KARLINGER
im Fremden zu stehen. Draußen im Menscheneinsamen, im „Elend“. Die landwan-
dernden, die „elenden“ Heiligen sind ihres Stammes. Die Geschichte schreibt das Jahr
Elf hundertfünfzig.
Was auf der Heerstraße vom Westen, aus dem Herzen des Reiches angefahren kam,
ging da vorüber. Die Pforte der Schotten war Regensburgs erster Gruß. Salve
Ratisbona!
II
„Die Tür steht offen dem Verlangenden, der um Friedung bittet.“ (Janua patet pul-
santi veniam precanti.) So stand geschrieben am Portal zu Steingaden, das in der Gene-
ration des Schottenportals gebaut ward. Zwei bis drei Generationen nach dem Jahr
Elfhundert.
Das Gleichnis von der Pforte, die Diesseitiges und Jenseitiges bindet, ist Zeitgut. In
unzähligen Inschriften und Wendungen kennt das 12. Jahrhundert diesen Satz. Hie
Welt, hie Gott und zwischen ihnen die Kraft menschlicher Seele, die bindet und löst.
Der Kosmos des Mittelalters.
Anderen Zeitaltern schien der Weg allgemeiner, von unpersönlichem Gesetz gewiesen.
Im Mittelalter ist das Einzel-Persönliche alles. Was will dem Einzelnen allgemeine
Notwendigkeit. Er selbst für sich allein kann nur Gewißheit haben. Nur er findet
seine Pforte.
Die Welt, das Ding, ist gleichmäßig allem, was vegetiert; das Außerweltliche eignet
dem Einzelnen. Noch ist — im Jahre Elfhundert — kein Sinnbild des Typischen ge-
funden (wie in der Gotik), das sich aus dem Vegetativen verklärte. Das Allgemeine
herrscht, das Unbestimmte. „Rem de re praedicari non posse, sed ideam de ideis",
sagen die Lehrer der Zeit.
Soweit die Universalien.
Aber wie jede Person — jedes Volk hat seine Helden, seine Unholde. Meermänner und
Nixen an der Küste, Zwerge und Riesen, Drachen und Recken im Alpenland. Held
Dietrich und Fabelkönig Laurin!
Und die Pforten — auch der Münster — gehören dem Volk. Drinnen, im abgegrenzten
Bezirke des Heiligtums wohnen die Wissenden. Ihre Vorstellungen gelten denen draußen
nur wie die lichterbeglänzten Wolken aufsteigenden Rauchwerkes. Die Portale reden
zum Volk. So will’s der Sinn des Mittelalters.
III
Fünf Pfostenpaare, prangend in der Linienpracht reichster Gewirke, stehen auf. Fünf
Löwenpaare darüber halten Wacht. Fünf Bogen wölben sich über sie. Spielwerk gleich
Zimbelklang — Figürchen und schattende Säume — sind zwischen sie gelegt.