Universitätsbibliothek HeidelbergUniversitätsbibliothek Heidelberg
Metadaten

Geymüller, Heinrich von; Geymüller, Heinrich von [Mitarb.]
Die Baukunst der Renaissance in Frankreich (1. HeftTheil 2, 6. Band, 1. Heft): Historische Darstellung der Entwickelung des Baustils — Stuttgart: Arnold Bergsträsser Verlagsbuchhandlung, 1898

DOI Seite / Zitierlink: 
https://doi.org/10.11588/diglit.67517#0016
Überblick
loading ...
Faksimile
0.5
1 cm
facsimile
Vollansicht
OCR-Volltext
2

2.
Grenzen
und Ziel der
Unter-
fuchungen.

anzutreten begann. In diefem Gegenbefuche giebt es indefs einen Augenblick, eine
Erfcheinung, welche die anderen an Feierlichkeit übertrifft; es ift dies das Eindringen
der Renaiffance in das Geburts- und Heimathland der Gothik felbft: nach Frankreich.
Gegenüber der Unmöglichkeit, für diefes einzig da flehende Ereignifs von
folcher welthiftorifcher Tragweite eine beffere Bezeichnung zu finden, ift es als eine
Art von Profanation, zum minderten als ein Mangel von objectivem Verftändnifs
anzufehen, wenn in neuerer Zeit namentlich franzöfifche Schriftfteller diefen Namen
nur auf das augenblickliche Wiederaufblühen irgend einer Kunftperiode, blofs im
Sinne des englifchen Revival oder ftatt des Wortes Reveil, anwenden. Keine Pro-
fanation, hingegen grundfalfch ift es ferner, wenn jene Autoren die Entftehung
des gothifchen Bauftils in Frankreich als die »Renaiffance des XIII. Jahrhundertes«
bezeichnen; denn es war dies die Erftgeburt der nordifchen Kunft und keine Wieder-
geburt, ein Ereignifs von hinreichender Gröfse und Selbständigkeit, um fich nicht
auf Vorhergegangenes beziehen zu müffen.
Für alle Diejenigen, welche in der Lage find, die hohe Bedeutung der gothi-
fchen Architektur und ihrer herrlichen Formen in ganzer Tragweite zu erfaffen und
nicht blofs von einem befchränkten, technifch-rationaliftifchen Standpunkte aus, wie
dies Viollet-le-Duc gethan, für diefe liegt im Eindringen der italienifchen Architektur
nach Frankreich etwas, wie eine tief eingreifende Stimme des göttlichen Leiters der
Welten, deren volle Bedeutung und Folgen zu ergründen fich wohl lohnt. Die
Schickfale der aus dem Bündnifs der franzöfifchen Gothik und der italienifchen
Renaiffance hervorgegangenen »franzöfifchen Renaiffance« und ihrer verfchiedenen
Stilphafen zu unterfuchen, ift die Aufgabe des vorliegenden Bandes.
Jede Architekturgefchichte, welche es fich als Ziel fetzen würde, die voll-
ftändige Schilderung eines Bauftils nicht nach dem vielfach trügerifchen Bilde,
welches wir uns oft blofs aus den noch erhaltenen Bauwerken zu entfalten ge-
nöthigt find, fondern nach dem wirklichen Hergänge der Entwickelung zu liefern,
müffte, um zu einem gerechten Urtheile über den ab fohlten oder nur relativen
Werth diefes Stils im Vergleich zu denjenigen Bauweifen, die früher oder gleich-
zeitig in Nachbarländern blühten, vier Gebiete, die heutzutage fo zu fagen getrennt
find, erforfchen und berückfichtigen, nämlich:
1) die noch erhaltenen Baudenkmäler,
2) die untergegangenen Baudenkmäler,
3) die epochemachenden, unausgeführten Projecte, und
4) die hiftorifchen Nachrichten über die Denkmäler und ihre Erbauer.
Nur auf diefe Weife könnte man hoffen, zu einer wirklich treuen Darftellung
des betreffenden Bauftils als Ganzes zu gelangen, den Zufammenhang feiner Haupt-
elemente zu erfaffen, das Auftreten der Einzelheiten zu erklären und der Em-
pfindungsweife jener Culturepoche, der Gedankenwelt, in welcher ihre Ideale
fchwebten und die fie zu verwirklichen trachtete, näher zu treten.
Es darf angenommen werden, dafs der praktifche Nutzen einer in folcher
Weife erfaßten Gefchichte der Bauftile ein fehr grofser wäre, weil fich dann hoffen
liefse, mehr auf den Grund der lebendigen Gefetze zu gelangen, die jedem Bauftil
— figürlich gefprochen als eine Art organifches und ideales Wefen betrachtet -—
innewohnen und feine Entwickelung mitbedingen helfen. Die lebendigen Gefetze
der Bauftile find aber gerade dasjenige, was im Studium der Architektur jederzeit
belebend und fegensreich wirken würde, wenn fie beffer bekannt wären.
 
Annotationen