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Geymüller, Heinrich von; Geymüller, Heinrich von [Contr.]
Die Baukunst der Renaissance in Frankreich (1. HeftTheil 2, 6. Band, 1. Heft): Historische Darstellung der Entwickelung des Baustils — Stuttgart: Arnold Bergsträsser Verlagsbuchhandlung, 1898

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https://doi.org/10.11588/diglit.67517#0077
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6o

56.
Compromifs
an Wohn-
gebäuden.

ponirt und fich dem gemäfs ausdrückt. Gefchieht dies, fo ift man bereits in dem
Falle, der uns hier befchäftigt: in der Periode der Hoch-Renaiffance angelangt.
Von einer objectiv und richtig verftandenen Auffaffung der Formen der antiken,
fo wie der modernen italienifchen Architektur, und zwar fowohl von Seiten der
Laien, wie der Architekten, während der erften Zeit, die auf den Zug Carl VIII.
folgte, kann demnach wohl kaum die Rede fein135). Jeder Franzofe nahm aus diefen
Quellen auf das Gerathewohl hin, was ihm gerade gefallen mochte, und brachte es
dort an, wo es ihm zufällig Freude bereitete. Man hatte, bewufft wie unbewufft,
noch viel zu grofse Luft an allerlei gothifchen Anordnungen, Gedanken, Gewohn-
heiten und Anfchauungsweifen, um — Grabmäler und Gärten etwa ausgenommen —
einen Entwurf von durchaus italienifcher Erfcheinung anzunehmen. Alles führte
daher, wie von felbft, zu einer Verfchmelzung oder richtiger, zu einer Vermifchung
der Formen durch Nebeneinanderftellen derfelben.
Wir ftehen fomit hier vor einer Anzahl von Erfcheinungen, die in der Ge-
fchichte jedesmal auftreten, fobald fich im eigenen Lande ein neuer Architekturftil
entwickelt oder fobald ein bereits entwickelter Stil von einem fremden Lande auf-
genommen wird. Am beften laffen fich folche Erfcheinungen dort beobachten, wo
die gothifchen Formen in die romanifchen, die arabifch-perfifchen in diejenigen
Hinduftans, die italienifche Renaiffance in das Gothifche des Abendlandes und mit
Arißotele Fioravanti in das Byzantinifch-Perfifche Moskaus einzudringen anfangen.
In der Behandlung derartiger Fragen begehen eben fo die Architekten, wie
die Kunfthiftoriker zu leicht den Fehler, von dem Gefchmack des Volkes, welches
einen fremden Stil aufzunehmen beginnt, eine pfychologifche Unmöglichkeit zu ver-
langen: das plötzliche Aufgeben aller nationalen Liebhabereien und Eigenthümlich-
keiten zu Gunften der Vorfchläge eines ausländifchen Architekten. Bei rein idealen
Aufgaben ift letzteres zuweilen eher möglich und kann auch geradezu gefordert
werden. Defshalb konnten Grabmäler, wie diejenigen für die Kinder Carl VIII. zu
Tours oder jenes für Ludwig XII. in St.-Denis, fo zu fagen, rein italienifche werden;
bei Gartenanlagen, ja bei der Capelle 5. Lazare zu Marfeille werden wir fpäter ein
Gleiches finden. Bei Kirchen hingegen ift das Fefthalten an den nationalen Ge-
danken fchon viel ausgefprochener; bei Wohngebäuden jedoch verhält es fich ganz
anders, wie fpäter bei der Befprechung der FaQaden-Compofition gezeigt werden wird.
Mochte auch ein franzöfifcher Edelmann, begeiftert vom Anblick der Paläfte
Italiens, dort den Entfchlufs faffen, fich in der Heimath in gleichem Geifte ein
Schlofs zu errichten, fo befand er fich, fobald er an die Ausführung diefes Ge-
dankens kam und er den von einem italienifchen Architekten verlangten Entwurf
endlich vor fich liegen hatte, plötzlich vor einer Reihe von Bedenken, an die er
anfänglich gar nicht gedacht haben mochte. Die Rundthürme, die Zeichen feiner
feudalen Rechte, die erft von den gothifchen Architekten erfundenen fteilen Dächer,
die hohen Schornfteine und Dachfenfter und die Gefammtanordnung, an der er mit
Vorliebe hing, wollte er nunmehr nicht aufgeben. Durch Einführen diefer Be-
dingungen allein muffte fich naturgemäfs fchon die Erfcheinung des italienifchen
Entwurfes wefentlich verändern. Hierzu kam weiters die Herabminderung der be-
deutenden Stockwerkshöhe italienifcher Paläfte auf jene geringere Höhe, in der er
fich wohl fühlte. Die Folge davon war nicht allein ein gänzliches Umarbeiten

135) Eben fo wenig, wie man eine fremde Sprache in einer Woche oder einem Monate erlernen kann.
 
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