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MATTHÄUS SCHIESTL.

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Wer in den letzten Jahren die graphischen Ausstellungen besucht hat, dem werden hie und
da aus der Menge von landschaftlichen Motiven derbe Figurenbilder aufgefallen sein, die so kraftvoll
und kernig zwischen den übrigen weicheren Arbeiten standen wie alte Ritterrüstungen in einem
modernen Bailokal. Matthäus Schiestl war auf den nicht allzustark in die Farbe gehenden Blättern
zu lesen; und diesem stillen, ehrlichen, echt deutschen Künstler gelten die folgenden Zeilen. Ein
nach allen Seiten hin abgerundetes Bild seines Schaffens geben sie allerdings nicht; ebensowenig
eine genaue Analyse seiner starken, wurzelfesten Kunst. Dazu war einesteils der Raum zu knapp
bemessen und anderenteils die Erwägung zu nachhaltig, daß der Versuch, das Spezifische einer
Kunstweise genau zu definieren, immer mehr oder weniger mißlingen wird, da die Kunst die
tiefsten Tiefen ihres Inneren ja schließlich nur selbst erschließen kann, und im Grunde genommen
nicht einmal der Künstler selbst uns zu sagen vermag, worauf seine persönlichen Neigungen und
Eigenheiten beruhen und woher jene Verschiedenheiten in Natur und Auffassung stammen, die
seinen Farben- und Formensinn beeinflußt haben. Sie gehören, wie Walter Crane sagt, zu dem
innersten Wesen seines Geistes und Körpers, sie entziehen sich seiner Herrschaft und oft beinahe
seinem Bewußtsein. Sie gehören vielleicht ebenso sehr seinen Ahnen und Voreltern als ihm selbst
an und sind in den abgebrochenen Erinnerungen alter Familiengeschichten zerstreut; man kann
nur sagen, daß gewisse Formen und Farben seinem Auge so und so erscheinen, daß ihm die einen
besser gefallen als die anderen — weil er so beschaffen ist.

Wie er aber beschaffen ist, das läßt sich bis zu einem gewissen Grade mit nicht allzu großer
Schwierigkeit feststellen. Im Charakter wurzeln die Taten und wer den Menschen kennt, der kennt
auch seine Werke. Unseres Künstlers Wesen scheint sich in letzter Linie auf einer schlichten,
ehrlichen Einfachheit und derben Natürlichkeit aufzubauen; und einfach und schlicht, wie sein
Charakter und seine Kunst, so war bis jetzt auch der Gang seines Lebens, der gar wenig Parallelen
mit dem Verlauf eines Künstlerromans aufzuweisen hat. Am 27. März 1869 wurde Matthäus
Schiestl in Gingl bei Salzburg geboren, wo sich sein Vater, ein Bildschnitzer aus dem Zillertal,
angesiedelt hatte. 1873 wanderte die Familie nach Würzburg aus, und der junge Matthäus kam
dann ein paar Jahre später, obwohl er schon frühzeitig von dem Wunsche beseelt war, Maler zu
werden, ins Atelier seines Vaters, wo er an die zehn Jahre heilige und weltliche Figuren und
Reliefs mitschnitzte, die dann vergoldet und bemalt wurden. In den freien Stunden aber widmete
er sich der Zeichenkunst und Malerei und durchstreifte mit seinem Skizzenbuch das liebliche
Frankenland, das mit seiner Fülle von romantischen Dörfern, Städtchen und Ruinen ihm die reichste
künstlerische Anregung bot. Im Alter von 24 Jahren (1893) kam er an den Ort seiner Sehnsucht,
nach München, woselbst er die erste Zeit mit Kopieren in der Pinakothek und im Kupferstich-

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