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Umwälzungen der Aufklärungszeit verursacht haben, kamen aus England, wo sie sich jedoch
nicht im Widerspruche zu einer bestehenden Kultur, sondern aus ihr heraus entwickelt haben,
und zu den wichtigsten Gütern dieser Zivilisation gehörte auch die alte Kunsttradition, in der die
Engländer als die unmittelbaren Erben der Niederländer zu betrachten sind. Die Niederlande waren
aber nebst Italien lange Zeit die eigentliche Heimat und Wiege dieser Überlieferung. Während
also auf dem Kontinente die Probleme einer hochentwickelten Malerei literarischen und sozialen
Tendenzen weichen mußten, werden sie in England von Künstlern wie Turner und Constable
ohne Unterbrechung weiter entwickelt. Aber auch in Frankreich dauerte die Unterbrechung nicht
lange. Die alte Kunst und Kultur war zu tief eingewurzelt, als daß sie Demagogengerede und
Pöbelwahnsinn auf die Dauer hätte ganz abschaffen können, um so weniger, da sie sich in England
erhalten hatte. In der Kunst der Meister von Fontainebleau lebt sie auch in Frankreich wieder auf.
Vergleicht man die Bilder Corots mit den Bildern Watteaus und seiner Schule, so könnte man
meinen, daß es keine Revolution und keinen Klassizismus gegeben hat. Die Episode war über-
wunden und schnell ist man nun dem Fortschritte nachgekommen, der sich einstweilen in
England vollzogen hat. Corot träumte noch von himmlisch schönen Landschaften, aber für
Rousseau und Daubigny ist die Natur nur mehr ein großes Atelier, wo man sich nur umzusehen
braucht, um allerorts Schönes und Interessantes zu finden. Da kam endlich auch der Meister, der
in genialer und um alle Überlieferung unbekümmerter Kraft das zu einem allgemeinen Gesetz
erhoben hat, was man bisher nur bei bestimmten Aufgaben vollinhaltlich durchzuführen wagte.
Die bahnbrechende Neuerung der Kunst Millets bestand darin, daß er die Auffassung des Bildes
als eines einfachen, künstlerisch und inhaltlich tendenzlosen Naturausschnittes, der nicht von
einer figuralen Komposition ausgeht, sondern der im Gegenteile selbst das Primäre, die
Grundlage und Veranlassung des Bildes ist und der so wie er ist oder dem Maler erscheint,
auf die Bildfläche übertragen wird - - eine iViffassung, die bisher nur in der Landschaftsmalerei
manchmal geltend war —, zu dem allgemeinen Prinzip der malerischen Erfindung erhob. Er malte
nicht mehr Bauern und eine Landschaft, sondern beides ist für ihn eins und wird als Ganzes mit
ebensoviel Treue dargestellt, wie ein Porträt oder eine Landschaft allein, wodurch die letzten
Fesseln der künstlichen Komposition zersprengt wurden. Auf den neuen Prinzipien der
malerischen Treue, die wir Millct verdanken, beruhen alle Aufgaben, um welche die folgenden
Generationen die Malerei bereichert haben. Da die künstlerische Arbeit des Künstlers in der
malerisch-treuen Wiedergabe eines Naturausschnittes bestand, mußte man bald die Entdeckung
machen, daß vieies von den alten Darstellungsmitteln der Malerei der natürlichen Erscheinung
gegenüber noch als konventionell betrachtet werden muß und nach Wegen suchen, diesen
Mängeln abzuhelfen. So entstanden die Bestrebungen der pleinairistischen und impressionistischen
Malerei, die vielfach auf Beobachtungs- und Darstellungsmittel zurückgreifen, die zwar auch
schon in der früheren Malerei gefunden werden können, aber da nur akzessorisch zur Verlebendigung
einer Komposition angewendet wurden, während sie nun als wesentlicher Bestandteil der
dargestellten Erscheinung das eigentliche Thema der Bilder ausmachen.

Ein Autor, der, die Bedeutung dieser Entwicklung und ihren universalhistorischen Zusammen-
hang ganz verkennend, in einer dickleibigen Geschichte der deutschen Kunst im XIX. Jahrhundert
ein Sammelsurium von Provinzialkunstgeschichten an ihre Stelle setzte, hat die »Czechen — ein
kunstloses Volk« genannt.

Die künstlerische Höhe eines Volkes ist nur nach dem Anteile zu bemessen, welchen es an
der allgemeinen Kunstentwicklung genommen hat. Denn wenn es auch keine absoluten künst-

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