Sachlich neu ist auch eine jede Photographie bis zum geringsten Detail, und dennoch gibt es
Aufnahmen, die bis zur Unkenntlichkeit unähnlich sind, weil auf ihnen das natürliche Spiel der
Bewegungen, Gesten und Mienen verloren gegangen ist. Bei einer Zeitaufnahme verschwindet es,
weil sie Bewegungslosigkeit voraussetzt, bei einer Momentaufnahme kommt es nicht zur Geltung,
weil es in seine Elemente zerlegt wird, die in der Wirklichkeit nicht wahrgenommen werden. So
kann uns nur eine malerische Abstraktion darüber Bericht erstatten, was eine statuenhafte Form
zu einer lebendigen Erscheinung gestaltet. (Deshalb ist auch die moderne Photographic viel mehr
von der Malerei beeinflußt worden als umgekehrt, wie manchmal behauptet wird.)
Die Entstehung des neuen malerischen Stiles hat naturgemäß auch das Porträt in seine
Errungenschaften einbezogen. Bis dahin war die Sachlichkeit in der Porträtkunst mit konven-
tionellen Ensembles und Posen verbunden, und ein jedes Porträt war ein Atelierbild in der vollsten
Bedeutung des Wortes. Die erste Reform der neuen Malerei bestand darin, daß sie uns die
Menschen in ihrer natürlichen Umgebung und diese Umgebung in einer bestimmten momentanen
Erscheinung zeigte. Auch der porträtierte Mensch wird nur ein Teil eines bestimmten natür-
lichen Raumausschnittes, und das Hauptbestreben der Maler ist darauf gerichtet, die Relationen
zwischen diesem Milieu und dem darin befindlichen Modell darzustellen. Man beginnt jene
Bildnisse zu malen, bei welchen wie bei dem bekannten Porträt Kröyers in den Uffizien das
Sonnenlicht blaugraue Schatten über das Gesicht des Dargestellten wirft, oder wo das Bildnis wie
in einzelnen Werken Besnards oder Zorns vollkommen in seine farbigen, der Bildszenerie unter-
geordneten Valeurs aufgelöst wird.
Es kann kein Zweifel sein, daß diese vollkommene Unterordnung der Bildnismalerei unter
den Gesichtspunkt der landschaftlichen Beleuchtungsprobleme und unter die Aufgaben der neuen
Raummalerei nicht das letzte Ziel der Porträtkunst sein kann, sondern daß man früher oder später
zu jener Einschränkung und Anwendung dieser Prinzipien gelangen mußte, durch welche die
eigentliche Aufgabe der Porträtmalerei, die Darstellung der individuellen Erscheinung eines
Menschen, noch mehr gefördert werden. Denn die illusionistische Darstellung einer natürlichen
momentanen Erscheinung hat nicht nur die zeitlich und räumlich beschränkten und bestimmten
Licht- und Luftqualitäten des dargestellten Raumzusammenhanges zu berücksichtigen, sondern
auch noch ein drittes Accidens einer jeden in einem bestimmten Augenblicke gesehenen Gestalt
oder Szene, nämlich die Bewegung, durch welche diese Gestalt oder Szene in einem bestimmten
Momente belebt wird und welche bisher zumeist schablonenhaft oder abstrakt dargestellt wurde.
Diese Konsequenz hat bereits Velazquez in vereinzelten Beobachtungen gezogen, indem er etwa
das Drehen eines Speichenrades als eine Scheibe malte; doch daß solche Beobachtungen zu dem
allgemein angestrebten Plus der rein sachlichen Wiedergabe eines Bildnisses geworden sind,
war erst eine Konsequenz der Entwicklung der Malerei im XIX. Jahrhundert. Bei einem Bildnisse
ist aber die Darstellung eines individuellen Bewegungsrnotives, sei es nun eine wirkliche
Bewegung im Räume oder eine Pose oder Miene, falls sie in ihrer spontanen Eigentümlichkeit
wiedergegeben wird, eine ungeheuere Erweiterung der malerischen Darstellungsmittel, die uns die
einfache sachliche oder Milieu-Wahrhaftigkeit der vorangehenden Bildnismalerei als »steif und
leer« erscheinen läßt. Sie ist also der wichtigste Gewinn, den die Porträtkunst aus dem neuen
malerischen Prinzipe ziehen konnte, zugleich aber eine Vertiefung und Umgestaltung dieses
Prinzips, durch welche zu der toten Welt auch der lebende Mensch neu erobert wurde.
In dieser Richtung bewegt sich die moderne Bildnismalerei von Manet zu Degas, von Degas
zu Whistler. Ist es auch dem letztgenannten in unübertrefflicher und genialer Weise gelungen, in
46
Aufnahmen, die bis zur Unkenntlichkeit unähnlich sind, weil auf ihnen das natürliche Spiel der
Bewegungen, Gesten und Mienen verloren gegangen ist. Bei einer Zeitaufnahme verschwindet es,
weil sie Bewegungslosigkeit voraussetzt, bei einer Momentaufnahme kommt es nicht zur Geltung,
weil es in seine Elemente zerlegt wird, die in der Wirklichkeit nicht wahrgenommen werden. So
kann uns nur eine malerische Abstraktion darüber Bericht erstatten, was eine statuenhafte Form
zu einer lebendigen Erscheinung gestaltet. (Deshalb ist auch die moderne Photographic viel mehr
von der Malerei beeinflußt worden als umgekehrt, wie manchmal behauptet wird.)
Die Entstehung des neuen malerischen Stiles hat naturgemäß auch das Porträt in seine
Errungenschaften einbezogen. Bis dahin war die Sachlichkeit in der Porträtkunst mit konven-
tionellen Ensembles und Posen verbunden, und ein jedes Porträt war ein Atelierbild in der vollsten
Bedeutung des Wortes. Die erste Reform der neuen Malerei bestand darin, daß sie uns die
Menschen in ihrer natürlichen Umgebung und diese Umgebung in einer bestimmten momentanen
Erscheinung zeigte. Auch der porträtierte Mensch wird nur ein Teil eines bestimmten natür-
lichen Raumausschnittes, und das Hauptbestreben der Maler ist darauf gerichtet, die Relationen
zwischen diesem Milieu und dem darin befindlichen Modell darzustellen. Man beginnt jene
Bildnisse zu malen, bei welchen wie bei dem bekannten Porträt Kröyers in den Uffizien das
Sonnenlicht blaugraue Schatten über das Gesicht des Dargestellten wirft, oder wo das Bildnis wie
in einzelnen Werken Besnards oder Zorns vollkommen in seine farbigen, der Bildszenerie unter-
geordneten Valeurs aufgelöst wird.
Es kann kein Zweifel sein, daß diese vollkommene Unterordnung der Bildnismalerei unter
den Gesichtspunkt der landschaftlichen Beleuchtungsprobleme und unter die Aufgaben der neuen
Raummalerei nicht das letzte Ziel der Porträtkunst sein kann, sondern daß man früher oder später
zu jener Einschränkung und Anwendung dieser Prinzipien gelangen mußte, durch welche die
eigentliche Aufgabe der Porträtmalerei, die Darstellung der individuellen Erscheinung eines
Menschen, noch mehr gefördert werden. Denn die illusionistische Darstellung einer natürlichen
momentanen Erscheinung hat nicht nur die zeitlich und räumlich beschränkten und bestimmten
Licht- und Luftqualitäten des dargestellten Raumzusammenhanges zu berücksichtigen, sondern
auch noch ein drittes Accidens einer jeden in einem bestimmten Augenblicke gesehenen Gestalt
oder Szene, nämlich die Bewegung, durch welche diese Gestalt oder Szene in einem bestimmten
Momente belebt wird und welche bisher zumeist schablonenhaft oder abstrakt dargestellt wurde.
Diese Konsequenz hat bereits Velazquez in vereinzelten Beobachtungen gezogen, indem er etwa
das Drehen eines Speichenrades als eine Scheibe malte; doch daß solche Beobachtungen zu dem
allgemein angestrebten Plus der rein sachlichen Wiedergabe eines Bildnisses geworden sind,
war erst eine Konsequenz der Entwicklung der Malerei im XIX. Jahrhundert. Bei einem Bildnisse
ist aber die Darstellung eines individuellen Bewegungsrnotives, sei es nun eine wirkliche
Bewegung im Räume oder eine Pose oder Miene, falls sie in ihrer spontanen Eigentümlichkeit
wiedergegeben wird, eine ungeheuere Erweiterung der malerischen Darstellungsmittel, die uns die
einfache sachliche oder Milieu-Wahrhaftigkeit der vorangehenden Bildnismalerei als »steif und
leer« erscheinen läßt. Sie ist also der wichtigste Gewinn, den die Porträtkunst aus dem neuen
malerischen Prinzipe ziehen konnte, zugleich aber eine Vertiefung und Umgestaltung dieses
Prinzips, durch welche zu der toten Welt auch der lebende Mensch neu erobert wurde.
In dieser Richtung bewegt sich die moderne Bildnismalerei von Manet zu Degas, von Degas
zu Whistler. Ist es auch dem letztgenannten in unübertrefflicher und genialer Weise gelungen, in
46