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Es war beim Drucke dieser venetianischen Radierungen, daß Whistler seine ganze Geschick-
lichkeit im Erzielen von atmosphärischen Effekten und dem Spiel der Reflexlichter auf breiten
Wasserflächen entfaltete, indem er die Farbe auf verschiedenen Stellen der Platte ungleich ver-
teilte, ein Verfahren, das von einigen Puristen, Verteidigern der strengen Linientechnik, als
unerlaubt verpönt wird. In den meisten seiner späteren Arbeiten, vom Jahre 1885 angefangen
(W. 200 und die folgenden Nummern), kehrte er zu einer einfacheren Druckmethode zurück; er
bediente sich beinahe stets eines hellen Braun als Druckfarbe, wovon er einen dünnen Schleier auf
der Platte stehen ließ, aber niemals so viel, daß dadurch die Wirkung der radierten Linie selbst
übertönt wurde. Beinahe all die letzten Radierungen sind klein, zart und nur in wenigen Drucken
vorhanden; man kann kaum sagen, daß sie überhaupt publiziert wurden, und die bei Obach
ausgestellten 70 Stücke dieser Periode waren, abgesehen von dem engen Kreise eingeweihter
Sammler und von Whistlers persönlichen Freunden, für die meisten Besucher neu.

Es fällt schwer, aus einer so großen Anzahl von beinahe durchwegs köstlichen Blättern einige
mit einem besonderen Lob zu bedenken, doch darf vielleicht eine Ausnahme gemacht werden
zugunsten von Fruit Shop, Chelsea (W. 210), Savoy scaffolding (W. 217) und der Folge von acht
Marinedarstellungen (W. 237—244), die an die Jubiläumsflottenschau von 1887 erinnern. Dann
gibt es unter den kontinentalen Radierungen viele bewunderungswürdige Arbeiten: die
Architekturstudien von Brüssel, Brügge und Bourges, die Little Drawbridge (W. 263), das Nacht-
stück Dance House (W. 265), das sonderbar benannte Embroidered Curtain (Fassade eines
holländischen Hauses, sehr detailliert ausgeführt), vor allem aber Zaandam (W. 268), das sicher-
lich eines der Meisterstücke der Radierung überhaupt ist und gleich hervorragend ein anderes
holländisches Thema, Amsterdam from the Tolhuis (W. 82), viele Jahre vorher entstanden, wovon
die Ausstellung einen frühen Zustand von außerordentlicher Schönheit enthielt. Flüchtig und
unbedeutend, wie einige dieser Blätter erscheinen, können wir doch sicher sein, daß jede dieser
späten Radierungen die Frucht sorgfältigen Nachdenkens und ebensolcher Auswahl war. Whistler
wußte als Radierer ebenso wie als Maler mit wunderbarer Sicherheit, wie das Überflüssige außer
acht zu lassen und der angestrebte Effekt genau festzuhalten sei; er war mehr als der bloße Improvi-
sator, wie ihn einige seiner Kritiker genannt haben. Er war zweifellos, besonders während seiner
mittleren Periode, bisweilen in der Zeichnung der menschlichen Figur, namentlich der Arme und
Beine, sorglos bis zur Fehlerhaftigkeit. Seinen Radierungen mögen einige strenge Richter vorwerfen,
daß sie allzusehr den Menschen vernachlässigen. Es gibt eben verschiedene Ideale und verschiedene
Arten hoher Künstlerschaft. Wir können nicht alle Whistler auf einen Gipfel stellen. Aber warum
müssen wir ihm einen Platz über oder unter Rembrandt oder einem anderen der größten Radierer,
alten oder neuen, zuweisen? Es genügt zu sagen, daß er in den meisten Eigenschaften, die wir
gegenwärtig von einer guten Radierung verlangen, in der Kraft, in der Leichtigkeit der Strich-
führung und in der Unmittelbarkeit der Absicht, weit über den meisten seiner Zeitgenossen und
weit über allen seinen Nachahmern steht. Es ist leicht, fast alles in der Natur wegzulassen, was
der gewöhnliche Mensch darin sieht, aber nicht so leicht, etwas hineinzulegen, was der gewöhnliche
Mann aus sich selbst heraus niemals sieht, nämlich das Wesentliche der Dinge. Sieht man zum
ersten Mal eine umfassende Sammlung von Whistlers Arbeiten, so kann man sieh nur wundern,
wie wenig er irgendeinem Vorgänger verdankt und wie viel die Kunst der jüngeren Generation
ihm. Uns zum mindesten, wenn schon nicht allen kommenden Zeiten, muß er als ein großer
Meister gelten.

Campbell Dodgson.

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