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Nach zwei Jahren unermeßlichen Glückes, vermischt mit steten Ängsten, starb Rossettis Weib.
Der Verlust war für den Künstler ein fürchterlicher Schlag. Wie bekannt, begrub er mit seinem
Weib das Manuskript seiner Gedichte, die er für sie in ein kleines Buch geschrieben hatte. Jahre
nachher überredeten ihn seine Freunde dazu, sie aus dem Grabe wieder herauszuholen. Sie wurden
veröffentlicht und mit einemmale nahm Rossetti seinen Platz unter den besten Dichtern der Zeit
ein. Trotz des überwältigenden Kummers fand Rossetti mit der Zeit viel von der natürlichen Spann-
kraft seines Temperaments wieder und würde sie vielleicht ganz zurückgewonnen haben, wäre er
nicht in einer unseligen Stunde angeleitet worden, gegen seine Schlaflosigkeit Chloral zu gebrauchen.
Zu jener Zeit wurde dieses Mittel, damals noch neu in der Medizin, für harmlos gehalten, aber seine
aus fortwährendem Gebrauch entspringenden Übeln Wirkungen zerstörten Rossettis spätere Jahre.
Er wurde argwöhnisch und übellaunig, sein Haus verließ er immer nur nachts, selten am Tage. Er
war voll krankhafter Einbildungen, und seine Malerei ging rasch zurück.

Das schon erwähnte Blatt »Hamlet und Ophelia« zeigt jedoch seine Kräfte in ihrer Reife. Wir
müssen uns die Art und Weise ins Gedächtnis rufen, wie solche Themen bis dahin behandelt
worden waren, um uns ganz den Umsturz vergegenwärtigen zu können, den Rossetti bewirkt hat.
Selbst Delacroix' schöne Zeichnungen zum Hamlet gemahnen in Äußerlichkeiten an das Theater.
Rossetti aber führt uns ins Herz der Wirklichkeit. Er schafft denkende, fühlende Wesen, von
Fleisch und Blut, und zugleich sind die verwickelten und von Leben strotzenden Charaktere von
Shakespeares Einbildungskraft nicht unangemessen durch die Kunst des Malers verkörpert. Die
Tracht, die Architektur, die Zutaten sind nicht auf archäologische Studien nach der Art unserer Zeit
gegründet, der Künstler aber hat den Geist des mittelalterlichen Architekten und Handwerkers
eingesogen, und jedes Detail der Zeichnung trachtet, etwas zur Gesamtwirkung beizutragen. Ophelia
sitzt in einem kleinen Oratorium, und das geschnitzte Holzwerk der »Miserere«-Sitze, — der Baum der
Erkenntnis, bewacht von den Engeln mit ihren Schwertern, l'zzah tot niederfallend, als er die Arche
berührt - -, die Rose, deren Blätter abfallen in Hamlets achtloser Hand —, all dies führt nicht
weniger deutlich als die Haltung dieser beiden, die einmal Liebesleute gewesen waren, ohne irgend-
welche frostige Allegorie, ohne Symbol die Tragödie und die Leidenschaften des menschlichen
Geschickes und das Mysterium des Menschenherzens zu Gemüt. Das Mißtrauen, das seiner Mutter
Fehltritt Hamlet gegen alle ihres Geschlechtes eingeflößt hat, gemischt mit tiefem Mitleid, die Liebe,
die Ophelia trotz der rauhen Worte, die sie nicht versteht, noch immer nährt — wie beredsam
malen sie sich in den Gesichtern, den Händen, den Stellungen der beiden!

Rossetti war kein Zeichner allerersten Ranges. Er war kein Meister der Linie wie Dürer, kein
Zauberer wie Rembrandt; aber alles in dieser Zeichnung ist gefühlt, und wir können bloß wünschen,
daß viele Künstler, die ihm an natürlicher Geschicklichkeit und Kraft der Hand weit überlegen sind,
einen Teil seiner mächtigen Einbildungskraft und von dem gehabt hätten, was er selbst »die grund-
legende Gedankenarbeit" genannt hat. Es sei bemerkt, daß Rossetti, obgleich ein Dichter, dennoch
in seinen Zeichnungen und Gemälden immer malerisch war. Der Genius seiner Zeichenkunst sollte die
ganze englische Kunst beeinflussen. Trotz seiner Beschränkungen und der verhältnismäßigen Kürze
seiner Künstlerlaufbahn tat niemand im XIX. Jahrhundert durch sich selbst und durch das Werk
der ihm ergebenen Nachfolger, die er anregte, besonders William Morris und Burne-Jones, so viel
wie er, die ganze Auffassung der Künste umzugestalten und mit neuem Leben zu erfüllen.

Laurence Binvon.

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