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LUDWIG HEINRICH JUNGNICKEL.

Jungnickel bezeichnet selbst Wien als den Ausgangspunkt seiner Kunst. Es bedurfte freilich
nicht erst dieses Bekenntnisses. Man durchblickt sein Oeuvre und man hat ihn als einen durchaus
wienerischen Künstler erkannt. Geboren ist er ja freilich nicht nur nicht in Wien, sondern nicht
einmal in Österreich; seine Wiege stand in Bayern. Seine Mutter ist eine rechte reichsdeutsche
Frau, wie er selbst sagt. Alles Osten eichertum muß ihm also vom Vater herkommen, der ein Nord-
böhme, aus Eger her, gewesen ist. Bis zu seinem sechzehnten Lebensjahr hat Jungnickel in
München gelebt, dann ist er dem elterlichen Hause, wo man für die allzu sicheren Kunstambitionen
des jungen Knaben wahrscheinlich nicht viel Verständnis hatte, durchgebrannt und schnurstracks
nach Italien. Das war im Jahre 1897. In Italien hat er alles versucht, was die Tradition einem jungen
deutschen Kunsteleven für Italien zu versuchen vorschreibt. Er hat nach allen Seiten Aus-
blick gehalten, hat Straßen und Tavernen abgelungert, hat Aquarellskizzen nach stimmungsvollen
Winkeln angefertigt und verkauft, hat selbstverständlich in den Galerien Meisterwerke kopiert und
ist schließlich zu Conservatori in die Schule gegangen. In den Mappen Jungnickels liegen noch
allerhand Erinnerungen an diese erste Schaffenszeit: es sind talentierte Kunstversuche eines jungen
Mannes, nicht mehr. Die Revolutionen von später schicken noch nicht ihre Wolken voraus. Der
Weg scheint unsicher, könnte ebensogut zu italienischer Pose oder zu münchnerisch gemütlicher
Stimmungsmalerei führen. Dann aber kommt Jungnickel nach Wien. Es ist nicht anders möglich, als
daß er zuerst in die Akademie geht, sich bei Griepenkerl ein paar Stunden langweilt, bei Schmid die
Abendkurse belegt und bald darauf davonläuft. Doch gerade damals mochte die Frage »Wohin
jetzt?« einem talentierten Menschen weniger Kopfzerbrechen gemacht haben wie je zuvor. Sie löst
sich von selbst.

Denn man schreibt das Jahr 1900. Jahrhundertwende; aber für Wien eine Zeitenwende im wahren
Sinn des Wortes, eine Geisteswende, eine Kunstwende. Man kann sagen: ungefähr um dieses Jahr
stand Wien im Vordertreffen der ästhetischen Revolutionen Europas. 1897 war die Sezession
gegründet worden. Das Ereignis Gustav Klimt hielt noch alle Welt in Anspannung. Mit dem Beginn
des nächsten Jahres begann »Ver sacrum« zu erscheinen, mit dem Ende desselben Jahres stand das
»weiße Haus« Olbrichs an der Wien fertig. Und endlich wurde 1900 Alfred Roller an die Kunst-
gewerbeschule berufen, womit der »Klimt-Gruppe« allseits die Führung des Kunstlebens über-
geben war.

Hatte so ein junger Mensch um das Jahr 1900 Talent, so kam er einfach zu Roller, ob er wollte
oder nicht. Und wenn auch Jungnickel nur sehr kurze Zeit bei dem Meister geblieben und wenn
dessen Persönlichkeit selbst auch keinerlei Einfluß auf ihn genommen hat, so hatte es doch diese
ganze Gruppe neuer und revolutionärer Künstler. Er war endlich in die Atmosphäre geraten, deren
er bedurfte, die ihn bestimmte und die ihn zu sich seihst brachte. Wenn er auch später wieder
in die Akademie zu Unger gegangen ist, der Umschlag war ein- für allemal eingetreten. Und so
 
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